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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

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Heft 14 (2. Aprilheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0164
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mit dieser Tatsache befassen, wollen
wir von allen Erwägungen absehen,
die von einem smarten Geschäfts--
mann als sentimental empfun-
den werden könnten. Wir scheiden
also alle kulturellen Betrachtungen
aus. Wir lassen unter geistigen
Gesichtspunkten den Barbier als (Lr-
zieher ruhig gelten. Wir fragen
lediglich, ob er ein — wertvoller
geschäftlicher Faktor sein konnte.

Auf den ersten Blick sieht die
Sache ja außerordentlich modern,
will sagen: außerordentlich exakt-
empirisch aus. Man will den
Geschmack der Masse treffen; was
kann man also Besseres tun, als bei
der Masse selber anfragen und
somit den Barbier zum geistigen
Oberhaupt der Literatur zu machen?

Fragen wir zunächst: was ist
eine Masse? „Die Vereinigung
einer großen Menge von einzelnen
Menschen." Wenn ich also einige
Lausend literarisch gebildete Men-
schen zusammentrommle, habe ich
eine Masse? Bein, es gehört zum
Begriff, daß die Einzelnen keine gei-
stige Selbständigkeit haben und der
Literatur im Guten wie im Schlim-
men mit vollkommener Naivität
gegenüberstehn. Die geistige Selb-
ständigkeit kann man mit 000
multiplizieren, ohne daß in einem
geistigen Sinne eine Masse ent-
steht.

Aber dann stimmt ja die Sache
mit Scherls Barbier! Wenn die
Einzelnen keine geistige Selbständig-
keit haben, muß die Masse not-
wendig einen uniformen Zug
aufweisen. And wer könnte bestrei-
ten, daß sie das in der TaL auch
tut? Ist aber die Masse ein uni-
formes ELwas, so handelt man
ganz logisch, wenn man einen Lin-
zelnen herausgreift, um von ihm
den Geschmack der Masse zu erfah-
ren. Es ist mit der AniformitäL
der Masse wie mit der Gleichartig-
keit fremder Rassentypen.

In europäischen Augen sehn sich alle
Neger ähnlich, weil die gleichartigen
Merkmale der schwarzen tzaut, der
Wollhaare, der aufgeworfenen Lip-
pen usw. alle individuellen
Züge überschatten. In der Tat aber
sind diese individuellen Züge natür-
lich nicht nur da, sondern auch wirk-
sam. Wie uniform sieht nicht in
den Augen des SLädters eine Kuh-
herde aus! Man unternehme aber
einmal vergleichende physiognomische
Studien in einem Kuhstall, und man
wird sein blaues Wunder erleben!
Ich habe es öfter getan und habe
die unterschiedlichsten Typen gefun-
den: treuherzige, blöde, relativ vor-
nehme, friedfertige, zänkische usw.
Ia, ich habe sogar einmal eine Kuh
gefunden, die so ausgemacht ko-
kett und raffiniert aussah, daß ich
ihr jede weibliche Mederträchtigkeit
zugetraut hätte. Also: die Masse
erscheint unsern Augen uni-
form, i st es aber nicht. Die Massen-
psyche des Kleinbürgers ist von
der des Arbeiters verschieden und
verschieden von der des Bauern.
Die Massenpsyche des Mannes
ist anders als die des Weibes
usw. Wer möglichst viele Massen-
gruppen in seine geschästliche Spe-
kulation hineinbeziehen will, muß
die gemeinsamen psychologischen
Grundlagen ausrechnen und muß
also eine bestimmte Intelligenz in
Anwendung bringen.

Eine Iwischenfrage: wendet man
sich vielleicht an einen Dumm-
kopf, wenn man Aufschlüsse über
das psychologische Wesen der Dumm-
heit haben will? Man studiert
vielleicht das überreiche Material,
von dem man umgeben ist, aber man
erwartet dabei gewiß keine persön-
lichen Aufschlüsse. Wenn ein Dumm-
kopf über seinen eigenen Zustand
theoretisch Rechenschaft ablegen
könnte, wäre er ja nicht mehr dumm.

Wer zur Masse gehört, kann zwar
Masse sein, niemals aber über die
 
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