Napoleon
Gesehen ein Zahrhundert nach seinem Tode
ls vor einigen Iahren das geschichtliche Dasein Iesu im Kainpf
um die „Christus-Mythe" umstritten wurde, ließ ein geistreicher
Schriftsteller ein Buch erscheinen „Die Älapoleon-Mythe". Er be-
wies, dajz Napoleon alle Bedingungen des mythischen Helden erfüllte,
entwertete dichterisch die historischen Zeugnisse und parodierte den Christus-
Mythiker mit der Behauptung und dem Beweis, daß Napoleon nie ge-
lebt Habe, sondern eine mythische Erfindung sei. Solcher Scherz ist immer-
hin nicht ohne irgendeine Bedeutung. Napoleon ist sicherlich die letzte
weltgeschichtliche Gestalt von so unvergleichbaren Maßen und weittragen-
den Fähigkeiten, daß dem unmittelbar, „mythenschöpferisch" Empfin-
denden für einen unkritischen Augenblick sich die Annahme aufdrängt,
„Äbernatürliches" habe aus ihm gewirkt. Iener große Philosoph und
leidenschaftliche Feind des Korsen mag so empfunden haben, als er ihn
erblickte und rief: „Ich habe den Weltgeist reiten sehen!" Nnser letzter
„Maßstab" für politische Größe war Bismarck. Selbst sein Gegner bestreitet
nicht seine Größe. Aber wie klein war mindestens der Bereich seiner
Tätigkeit, verglichen mit dem Napoleons. Zuerst Diplomat, in enger
umzirkten Lehrjahren, dann erster Spieler des europäijchen Konzerts,
lange Aeit hindurch von innerpolitischen Dingen nicht schwer gehemmt,
dann als diese sich vordrängten, fast vom Erfolge verlassen. Napoleon
war und leistete auf diesem Felde dasselbe, er war außerdem ständig Heer-
führer, Verwaltungschef, Organisatvr eines europäischen Verkehrswessns,
einer gewaltigen Wirtschafts- und Finanzumgestaltung, Rechtsschöpser und
Weltkrieg-Lenker.
Vieles davon wird oft übersehen. Tausende kennen ihn nur als General,
als den Sieger von Marengo und Iena und Austerlitz, der im blutroten
Abendlicht von Waterloo ungesättigten Ehrgeizes dahinsank. So haben
wir, naiv und heldenfürchtig, als Knaben ihn aus den prächtigen Erinne-
rungen des tüchtigen und jugendlichen Marbot, aus Gourgauds Auf-
zeichnungen und aus platten Geschichtsbüchern kennen und auf unsere
Art bewundern gelernt. Ägypten, Rivoli, Iena, Aspern, Austerlitz, Spa-
Maiheft ,92t (XXXIV, s)
65
Gesehen ein Zahrhundert nach seinem Tode
ls vor einigen Iahren das geschichtliche Dasein Iesu im Kainpf
um die „Christus-Mythe" umstritten wurde, ließ ein geistreicher
Schriftsteller ein Buch erscheinen „Die Älapoleon-Mythe". Er be-
wies, dajz Napoleon alle Bedingungen des mythischen Helden erfüllte,
entwertete dichterisch die historischen Zeugnisse und parodierte den Christus-
Mythiker mit der Behauptung und dem Beweis, daß Napoleon nie ge-
lebt Habe, sondern eine mythische Erfindung sei. Solcher Scherz ist immer-
hin nicht ohne irgendeine Bedeutung. Napoleon ist sicherlich die letzte
weltgeschichtliche Gestalt von so unvergleichbaren Maßen und weittragen-
den Fähigkeiten, daß dem unmittelbar, „mythenschöpferisch" Empfin-
denden für einen unkritischen Augenblick sich die Annahme aufdrängt,
„Äbernatürliches" habe aus ihm gewirkt. Iener große Philosoph und
leidenschaftliche Feind des Korsen mag so empfunden haben, als er ihn
erblickte und rief: „Ich habe den Weltgeist reiten sehen!" Nnser letzter
„Maßstab" für politische Größe war Bismarck. Selbst sein Gegner bestreitet
nicht seine Größe. Aber wie klein war mindestens der Bereich seiner
Tätigkeit, verglichen mit dem Napoleons. Zuerst Diplomat, in enger
umzirkten Lehrjahren, dann erster Spieler des europäijchen Konzerts,
lange Aeit hindurch von innerpolitischen Dingen nicht schwer gehemmt,
dann als diese sich vordrängten, fast vom Erfolge verlassen. Napoleon
war und leistete auf diesem Felde dasselbe, er war außerdem ständig Heer-
führer, Verwaltungschef, Organisatvr eines europäischen Verkehrswessns,
einer gewaltigen Wirtschafts- und Finanzumgestaltung, Rechtsschöpser und
Weltkrieg-Lenker.
Vieles davon wird oft übersehen. Tausende kennen ihn nur als General,
als den Sieger von Marengo und Iena und Austerlitz, der im blutroten
Abendlicht von Waterloo ungesättigten Ehrgeizes dahinsank. So haben
wir, naiv und heldenfürchtig, als Knaben ihn aus den prächtigen Erinne-
rungen des tüchtigen und jugendlichen Marbot, aus Gourgauds Auf-
zeichnungen und aus platten Geschichtsbüchern kennen und auf unsere
Art bewundern gelernt. Ägypten, Rivoli, Iena, Aspern, Austerlitz, Spa-
Maiheft ,92t (XXXIV, s)
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