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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1923)
DOI Artikel:
Jaspers, Karl: Schizophrenie und die Kultur unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0096
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führt, sondern zur Arnsetzung rn andere uns gemäße Gestalt drängt. (Ls ist
ungehener aufregend, aber nicht unsere eigene Welt, es geht ein Infrage--
stellen von da aus, ein Appell an die eigene Existenz, die wohltätig wirkt,
indem eine Amwandlung einsetzt.

Ahnlich zu umschreiben schien mir die Wirkung, die ich bei anderen
Menschen sah. Es ist heute die problematrsche Lage, daß wir in den letzten
Fundamenten des Daseins gelockert sind. Die Zeit drängt zum Besinnen
auf letzte Fragen und zu unmittelbarsten Erfahrungen. Wir sind durch die
Lage unserer gesamten Kultur in ungewöhnlicher Weise in unserer Seele
offen geworden für fremde Dinge, sofern sie uns echt und existentiell
erscheinen.

Aber diese Lage drängt uns zugleich zu schnellen Antizipationen, zu
unechtem Nachmachen, zur Anterwerfung unter suggestiv wirkende Offen-
barungen. zu gewaltsamer Bewegung um jeden Preis, zum Schreien, in
dem wir die Besinnung verlieren. And wir erfahren als einen Grundzug
unseres Ethos, diesen Verführungen gegenüber, die uns fast alle mehr
oder weniger ergriffen haben, Haltung, Besonnenheit zu wahren, Redlich-
keit, Lchthert, Wahrhaftigkeit als verbindlich zu empfinden und warten zu
können. Mir kam in Köln W2 in dieser Ausstellung, wo um die wunder-
baren van Goghs herum expressionistische Kunst aus ganz Europa in merk-
würdiger Eintönigkeit zu sehen war, manchmal ein Gefühl, van Gogh sei der
erhabene einzige und widerwillig „Verrückte" unter so vielen, die verrückt
sein wollen, aber nur allzu gesund sind. Glauben wir in dem Medium
einer hohen intellektuellen Kultur, eines uns eigenen grenzenlosen Klarheits-
willens, einer Pflicht zur Redlichkeit, und eines dementsprechenden Realis-
mus, glauben wir die Echtheit dieser auflösenden Tiefe, dieses Gottbewußtsein
nur solchen .Geisteskranken? Wir leben in einer Zeit des künstlichen Nachi-
machens, der Verwandlung jeder Geistigkeit in Betrieb und InstituLion,
des bloßen Willens zu einer Existenzart und des Machens aus Linsicht,
des schauspielerhaften Erlebens, in einer Ieit von Menschen, die, was sie
sind, zugleich wissen, ja von Menschen mit gewollter Schlichtheit und nach!-
gemachter dionysischer Erfahrung und gestaltender Disziplin, deren beider
sie sich zugleich befriedigt bewußt werden. Ist in solchen Zeiten vielleich^
das Schizophrene Bedingung einer Echtheit in Sphären, die in gebundenen
Zeiten auch ohne Schizophrenie echt erfahren und dargestellt werden konnen?
Sehen wir einen Tanz um etwas, das gewollt, gesucht ist, das aber nur als
Schreien, als Machen, als Gewaltsamkeit, als Selbstberauschung rrnd Sich-
hineinsteigern, als flache Anmittelbarkeit und blöder Wille zur Primitivität,
ja als Kulturfeindschaft sich verwirklicht und das echt und tief sichtbar ist
in einzelnen Schizophrenen? Ist bei aller Verschiedenheit der Anlagen und
Bedürfnisse etwas Gemeinsames in all denen, die als Theosophen, Forma-
listen, Primitivisten um Strindberg, Swedenborg, tzolderlin, van Gogh
jenen Tanz aufführen, das Gemeinsame des Anechten, Sterilen, Anleben-
digen? Es wäre gewaltsam und eine dumme Verabsolutierung, wenn man
solche Fragen einfach mit ja beantworten wollte. Solche Beantwortung
übersteigt unsere Erkenntnis. Was „unecht" sei, ist uns eines der zentralsten
Probleme der Psychologie, das wir keineswegs gelöst, nicht einmal genü^-
gend klar formuliert haben. Aber als Fragen gehen uns jene Sätze an,
und wir haben zu sehen, wie weit sie mit ja, wie weit mit nein zu beant-
worten sind, wenn wir einmak jene Begriffe, die jetzt noch zwischen bloßen
unklaren Wertungen und klaren Einsichten schwanken, deutlicher besitzen.

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