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Licht, Hugo [Hrsg.]
Die Architectur Berlins: Sammlung hervorragender Bauten der letzten 10 Jahre — Berlin, [1877]

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https://doi.org/10.11588/diglit.19013#0011
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EINLEITUNG.

Die neueste Periode der Baugeschichte Berlins, welche das vorliegende Werk auf hundert Tafeln in
ihren hervorragendsten Schöpfungen darstellt, hebt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung an, den
die Hauptstadt des neuen deutschen Reiches nach dem Ende des französischen Krieges genommen.
Der Zusammenlluss der finanziellen Kräfte der Provinzen in die Hauptstadt, das erhöhte Selbstbewusstsein
nach glorreichen Waffenthaten, das Vertrauen auf die Solidität der neu geschaffenen Verhältnisse, die
Gruppirung von Geist und Capital um den Sitz der Regierung und die nothwendige Wechselwirkung
des einen auf das andere, die sich aus den mannigfachen Berührungspunkten beider ergiebt — das
sind die Hauptfactoren, welche eine Bauthätigkeit ins Leben gerufen haben, wie sie mit Rücksicht auf
ihren Umfang in der neueren Geschichte nicht ihres Gleichen findet. Geist und Capital kamen einander
entgegen: die Unternehmungslust des einen und die Sucht des anderen, seiner Macht eine sichtbare,
imponirende Gestalt zu verleihen, vereinigten sich zu einer langen Reihe von baukünstlerischen
Schöpfungen, welche die architektonische Physiognomie Berlins sehr wesentlich umgestaltet haben.

Nachdem Berlin zur Hauptstadt des neuen deutschen Reiches erhoben, gewann auch die Bau-
thätigkeit des Staates naturgemäss eine grössere Ausdehnung. Alte Gebäude, die ihren Zwecken nicht
mehr genügten, wurden umgebaut und erweitert, und eine stattliche Anzahl imposanter Neubauten —
die Bank, die Post, die Münze, das auswärtige Amt u. a. m. — speziell für die Bedürfnisse des neuen
staatlichen Organismus aufgeführt. Die ungewohnte Pracht der privaten Bauthätigkeit ist dabei von
Eiiiiluss auf die des Staates gewesen. Die frühere Sparsamkeit, welche Jahrzehnte lang die bindende
Richtschnur der Staatsbaumeister war, wich einer soliden Opulenz, die sich zunächst in der Verwendung
echter Materialien äusserte.

Ein dritter Factor, der an der baulichen Entwicklung Berlins mitwirken half, war der enorme
Zuzug von auswärts. Für die neuen Ankömmlinge mussten Wohnungen geschaffen werden, und so
erhoben sich in kurzer Frist ganze Strassenziige und Häuserviertel, die in ihrer Anlage den Zugang
von Licht und Luft, wenigstens von aussen her, begünstigten. Luft und Licht wurde auch das Bedürfniss
der in die engen Gassen der inneren Stadt zusammengepferchten Bewohner. Man machte hie und da
den Versuch, alte Strassen zu erweitern und neue durchzulegen; doch sind diese Versuche bis jetzt
nicht durchgreifend genug gewesen, um das Versäumniss unserer Vorfahren wieder gut zu machen.

Leider hat auf diesen Zweig der privaten Bauthätigkeit der neue künstlerische Aufschwung der
Berliner Architekten keinen Einiluss geübt. Die zu Tausenden neu entstandenen Mietshäuser haben
sich in keiner Weise von dem seit anderthalb Jahrhunderten in Berlin herrschenden „Miethskasernenstil"
emancipirt. Nur an der reicheren Anwendung von Stuckfiguren und -Ornamenten an den Fagaden
merkt man, dass seit einem Jahrzehnt eine neue Zeit hereingebrochen. Die seltenen Versuche, die
Anlage eines Mietshauses in wirklich künstlerischem Sinne zu lösen, sind in diesem Werke gebührend
berücksichtigt Worden. Aber solche Anlagen sind so isolirt, dass man von einer künstlerischen Aus-
bildung des Berliner Mietshauses, etwa nach Art des Wiener Zinshauses, füglich nicht reden kann.
Zahlreiche von den neu aufgeführten Geschäftshäusern der Stadt enthalten zwar auch Mietwohnungen;
doch verdanken dieselben ihre Einrichtung nieist nur dem Wunsche des Bauherrn, den übrig gebliebenen,
für seine Zwecke nicht mehr verwendbaren Raum anderweitig zu verwerten.
 
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