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sind in heiter-festlicher Schmuckfreude von gotischen architektonischen
Zierformen umrahmt. Oie gestaltenreichen Kompositionen fügen sich in
Wandlungsfähigem Rhythmus lebensvoll in die zierlichen Öffnungen der
Oreipässe, so in feinem Filigran die ganze Fläche mit ausdrucks-
vollen Formen sinnvoll überspinnend. Wenn in der Geburt des
Rindes oder in der Anbetung der Könige die sanfte Linien-
schwingung den Eindruck heiter-liebenswürdiger Anmut auslöst, so ist
der gleiche Linienrhythmus in der Kreuzigung befähigt, die Stimmungs-
werts erschütternden Schmerzes, leidvollster Ergriffenheit zu schaffen.
Lin Zeichen dafür, mit welcher Eindringlichkeit diese rein dekorative
Formgesinnung seelischen Erlebnisgehalt zu offenbaren weiß unter der
Nachwirkung der mittelalterlichen Innerlichkeit, Erschautes nur als
Innerlich-Erfühltes zu gestalten.
Vas erklärt, weshalb vom beginn bis zum Ende des l4. Jahr-
hunderts die dekorative Formgestaltung in Geltung bleiben konnte, war
sie doch stets in der Lage, ihre Ausdrucksform dem Wandel der mensch-
lichen Erlebnisweisen anzupassen. Auch die weltbürgerliche Allgemein-
gültigkeit dieser dekorativen, gotischen Flächenzier wird aus dieser Ein-
stellung verständlich. Denn der Italiener wie der Franzose, der englische
wie der deutsche Künstler vermögen es, ob sie auch in das Schema dieser
linienreichen Flächenkunst eingespannt sind, dennoch die ihnen eigenen
Stimmungen seelischen Erlebens zu offenbaren. So überrascht es nicht,
daß sich Kunstwerke mittelrheinischer und südenglischer Herkunft inner-
lich so nahe stehen, wie die mittelrheinische Warmor-Wadonna und die
beiden englischen Alabasterreliess der Sammlung Seligmann. (Tas. 15,
16, 17.) Oie reizvolle Schönheit des klangreichen Linienrhythmus der
Madonna ist dem Verkündigungsrelief innerlichst verwandt. Vas
formenreiche Spiel der Linien in den übersichtlich und klar geordneten
Eewandsalten, das Irrationale des nur gefühlsmäßig abwägbaren Auf-
baus der Linien- und Flächenverknüpfung ist hier wie dort gleich, wie
überraschend wirkt daneben die Gleichwertigkeit des seelischen Gehaltes!
Venn um den gefühlsmäßigen Ausdruck eines mystischen Erlebens sinn-
fällig zu offenbaren, ist das Gesicht der Madonna in einer weichen, ver-
hauchenden, fast formauflösenden Art modelliert, die auch für die gehalt-
volle Tiefe des seelischen Ausdrucks in der Verkündigung maßgebend ist,
und die auch in dem späteren Alabasterrelief der Krönung Marias der-
selben Sammlung noch die Formensprache vom Ende des 14. Jahrhunderts
bestimmt. Nichts zeigt klarer als diese Übereinstimmung der Formen
und Ausdruckswerte des Reliefs und des rundplastischen Werkes, wie
sicher die Stilanschauung des 14. Jahrhunderts sich in den schmuckreichen
Ausdruckswerten einer architektonischen Zierkunst geborgen fühlte.
 
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