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VIL
Die Mischung germanischer und romanischer
formmerkmale
Oie abendländische Kunst des 15. Jahrhunderts verdankt der Kunst
des burgundischen Reiches mannigfache und tiefgehende Anregungen.
Zweifellos deshalb, weil der burgundische Hof die Kraft hatte, das ge-
waltige Erbe der mittelalterlichen Kunst in der auf die Spitze getriebenen
Geistigkeit der abstrakt-dekorativen Formgesinnung des 14. Jahrhun-
derts innigst mit den triebhaft aufkeimenden Nächten einer werdenden,
neuen Zeit zu verbinden. Was weltbürgerlich-mittelalterlich war in
der gewaltigen Entfaltung übersinnlicher Gebundenheit des Denkens und
Fühlens, was neuartig-wirklichkeitsgemäß schien in dem strahlenden
Glanze prunkvollen Gberflächenreichtums der festlichen Schönheit der
diesseitigen Welt, beides fand am burgundischen Hofe gleichzeitig gleich
starke Erfüllung.
Vas wurde dadurch bewirkt, daß die burgundische Kunst Hofkunst
schlechthin war, eine Kunst, der im späten 14. und im beginnenden
15. Jahrhundert eine innigste Verbindung ferner Kunstschulen unterein-
ander eigentümlich war. So erklärt sich die burgundische Kunst einmal
aus den Nachwirkungen der völkerumfassenden Weltstellung der goti-
schen Kunst, zum anderen aus der kunstfördernden Tätigkeit der bur-
gundischen Herzöge. „Nm Hofe Burgunds herrschte stärker als jemals
vorher in einem Kunstsammelpunkte diesseits der Alpen der Brauch, die
besten Künstler, woher sie auch immer kamen, dem Dienste des Herzogs
zu verpflichten, die besten Kunstwerke, wo immer sie sich fanden, den
herzoglichen Sammlungen einzufügen. Ein neues, italienischer Art ver-
wandtes Gefühl, für das als Waßstab der Beurteilung allein der reine
Kunstwert galt, wird getragen von der gotischen Überlieferung, der
Entnahme fremder Kunstformen, der Verwertung von Vorbildern, Zeich-
nungen und Elfenbeintäfelchen, der Einstellung von Wanderkünstlern in
die heimischen Betriebe."
„Gegen Ende des 14. Jahrhunderts weisen manche Spuren hoher
Gesittung und reifen Kunstsinnes in Nordwest-Europa auf Burgund.
Der Hof der burgundischen Herzöge und Paris, die Vorschule des Ge-
schmacks und Stiles für die große Zahl der aus fremden Ländern heran-
gezogenen Künstler, machte die Künstler sehend, ließ sie den Wert und
die Ausdruckskraft der natürlichen Formgebilde erkennen, löste sie von
der innerlich erdachten, innerlich erschauten Formvorstellung des 15. und
14. Jahrhunderts *)".
*) L. Lüthgen: Vie lliederrheinische Plastik S. SS.
VIL
Die Mischung germanischer und romanischer
formmerkmale
Oie abendländische Kunst des 15. Jahrhunderts verdankt der Kunst
des burgundischen Reiches mannigfache und tiefgehende Anregungen.
Zweifellos deshalb, weil der burgundische Hof die Kraft hatte, das ge-
waltige Erbe der mittelalterlichen Kunst in der auf die Spitze getriebenen
Geistigkeit der abstrakt-dekorativen Formgesinnung des 14. Jahrhun-
derts innigst mit den triebhaft aufkeimenden Nächten einer werdenden,
neuen Zeit zu verbinden. Was weltbürgerlich-mittelalterlich war in
der gewaltigen Entfaltung übersinnlicher Gebundenheit des Denkens und
Fühlens, was neuartig-wirklichkeitsgemäß schien in dem strahlenden
Glanze prunkvollen Gberflächenreichtums der festlichen Schönheit der
diesseitigen Welt, beides fand am burgundischen Hofe gleichzeitig gleich
starke Erfüllung.
Vas wurde dadurch bewirkt, daß die burgundische Kunst Hofkunst
schlechthin war, eine Kunst, der im späten 14. und im beginnenden
15. Jahrhundert eine innigste Verbindung ferner Kunstschulen unterein-
ander eigentümlich war. So erklärt sich die burgundische Kunst einmal
aus den Nachwirkungen der völkerumfassenden Weltstellung der goti-
schen Kunst, zum anderen aus der kunstfördernden Tätigkeit der bur-
gundischen Herzöge. „Nm Hofe Burgunds herrschte stärker als jemals
vorher in einem Kunstsammelpunkte diesseits der Alpen der Brauch, die
besten Künstler, woher sie auch immer kamen, dem Dienste des Herzogs
zu verpflichten, die besten Kunstwerke, wo immer sie sich fanden, den
herzoglichen Sammlungen einzufügen. Ein neues, italienischer Art ver-
wandtes Gefühl, für das als Waßstab der Beurteilung allein der reine
Kunstwert galt, wird getragen von der gotischen Überlieferung, der
Entnahme fremder Kunstformen, der Verwertung von Vorbildern, Zeich-
nungen und Elfenbeintäfelchen, der Einstellung von Wanderkünstlern in
die heimischen Betriebe."
„Gegen Ende des 14. Jahrhunderts weisen manche Spuren hoher
Gesittung und reifen Kunstsinnes in Nordwest-Europa auf Burgund.
Der Hof der burgundischen Herzöge und Paris, die Vorschule des Ge-
schmacks und Stiles für die große Zahl der aus fremden Ländern heran-
gezogenen Künstler, machte die Künstler sehend, ließ sie den Wert und
die Ausdruckskraft der natürlichen Formgebilde erkennen, löste sie von
der innerlich erdachten, innerlich erschauten Formvorstellung des 15. und
14. Jahrhunderts *)".
*) L. Lüthgen: Vie lliederrheinische Plastik S. SS.