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Kunstwerk in wesentlichen auf der reinen und gesammelten Geistigkeit
mittelalterlichen Empfindens, ja, man darf geradezu sagen, mittelalter-
lichen Menschentums beruht. Das zu beachten, ist für die Betrachtung
der abendländischen Kunst des 15. Jahrhunderts von richtungweisender
Bedeutung, weil Sinn und Wesen dieser neueren Kunstgestaltung nur
erfaßt werden kann, sofern Sinn und Wesen der mittelalterlichen Kunst
rein und unverhüllt der Erkenntnis gegenwärtig ist.
II
Die Rlmstanschauung des Mittelalters und des
15. Jahrhunderts
Das 15. Jahrhundert scheidet mittelalterliches und neuzeitliches
Denken. Innerhalb der Entwicklungsgeschichte der abendländischen
Kunst umschließt der Zeitraum des 15. Jahrhunderts die folgenschwere
Wandlung einer an inneres Erleben gebundenen Anschauung zu einer
durch das Erwachen der Sinne innerlich entwurzelteren, äußerlich um so
gebundeneren Formensprache.
Was das 15. Jahrhundert für die Entwicklung der Kunst bedeutet,
empfand man seit langem im Hinblick auf die Kunst der italienischen
Renaissance. Oie bevorzugte Stellung, die der Renaissance Italiens von
jeher im Gesamtbilde der künstlerischen Entwicklung des Abendlandes
eingeräumt wurde, besagt deutlicher als irgend eine andere Tatsache,
daß man in der italienischen Kunst des 15. Jahrhunderts die bewußte
Lösung aus den Fesseln mittelalterlicher Gebundenheit des Denkens und
Fühlens anerkannte, hier, in Italien, glaubte man dem 15. Jahr-
hundert die schöpferische Gestaltungsgabe zuschreiben zu müssen, die zur
Grundlage einer neuen Kunstanschauung werden sollte, der Kunstan-
schauung, die bis in die neueste Zeit hinein ihrem innersten Wesen nach
allgemeine Geltung behielt.
Was für die Kunst Italiens gilt, gilt in gleichem Maße für die
Kunst des Abendlandes überhaupt.
Erweist es sich als berechtigt, der Kunst des 15. Jahrhunderts diese
umstürzlerische Bedeutung eines völligen Formwandels zuzuerkennen —
und die Geschichte der künstlerischen Formensprache vom 15. bis zum
20. Jahrhundert läßt darüber keinen Zweifel — so müssen die form-
wandelnden Kräfte des 15. Jahrhunderts eine Wacht besessen haben, die
geeignet war, alle Hemmnisse der Überlieferung zunichte zu machen. Es
mußten sich der mittelalterlichen Denkungsart im 15. Jahrhundert so
 
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