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Ludowici, Babette
Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens (Band 35): Frühgeschichtliche Grabfunde zwischen Harz und Aller: die Entwicklung der Bestattungssitten im südöstlichen Niedersachsen von der jüngeren römischen Kaiserzeit bis zur Karolingerzeit — Rahden/​Westf.: Verlag Marie Leidorf, 2005

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.68706#0014
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Einführung

Gegenstand der vorliegenden Studie sind Grabfunde der jün-
geren Römischen Kaiserzeit, der Völkerwanderungs- und
Merowingerzeit und der Karolingerzeit aus dem Gebiet zwi-
schen dem nördlichen Rand der Mittelgebirge und der
Allerniederung im Bereich des Bundeslandes Niedersachsen.
Die Grenzen des Untersuchungsgebietes bilden im Westen der
Unterlauf der Leine, im Norden das Allertal und im Süden der
Rand des Harzes bzw. der Mittelgebirge (Abb. 1). Die Region
geht hier jeweils in Landschaften über, aus denen bislang keine
oder nur auffallend wenige frühgeschichtliche Funde bekannt
sind1. Nördlich und südlich des Untersuchungsgebietes
scheint diese Fundleere naturräumlich begründbar, denn die
breite Allerniederung und die ihr südlich vorgelagerten Sand-
böden waren ein ebenso siedlungsungünstiges Terrain wie die
östlich daran anschließenden Sümpfe des „Drömling" und das
Gebirgsmassiv des Harzes. Im Raum zwischen Leine und
Weser dürfte die geringe Zahl bekannter Funde jedoch über-
lieferungsbedingt sein2.
Im Osten geht das Untersuchungsgebiet am Oberlauf der Aller
in die Bördelandschaft westlich der Elbe über und öffnet sich
im Raum Schöningen zum östlichen Nordharzvorland im Be-
reich der Bode. Nur das „Große Bruch", ein ausgedehntes
Sumpfgebiet, das erst im 18. Jh. durch Entwässerungsmaß-
nahmen für landwirtschaftliche Zwecke nutzbar gemacht wor-
den ist, bildet eine naturräumliche Barriere zwischen dem
Braunschweiger Raum und dem anschließenden östlichen
Nordharzvorland um Halberstadt (s. Abb. 1). Letztere Region
im Bereich des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt ist
durch einen reichen Bestand an archäologischen Funden und
Befunden aus frühgeschichtlicher Zeit gekennzeichnet, die
auch schon wiederholt Gegenstand der Forschung waren. Zu
nennen sind hier besonders die 1965 publizierte Untersuchung
bzw. Materialvorlage von Grabfunden der jüngeren und spä-
ten Römischen Kaiserzeit von R. Laser3, die zahlreichen Ar-
beiten von B. Schmidt über Grabbefunde der frühen und spä-
ten V ölkerwanderungszeit4 und eine 1966 von H. Rempel vor-
gelegte Studie über Grabfunde des 8. bis 11. Jhs5. Die Unter-
suchungsgebiete der genannten Autoren waren nach Westen
durch die ehemalige Staatsgrenze der DDR zur BRD begrenzt.
Diese entspricht der heutigen Landesgrenze zwischen den
Bundesländern Niedersachsen und Sachsen-Anhalt und wurde
als östliche Grenze des Arbeitsgebietes gewählt.
Hauptanliegen der Untersuchung ist es, näheren Aufschluß
über die bislang erst in Ansätzen beschreibbaren Eigenheiten
und Entwicklungen der Bestattungssitte im südöstlichen Nie-
dersachsen von der Spätantike bis in die Zeit der Herrschaft
der Karolinger zu gewinnen.

Einer Beurteilung der aus diesen Epochen überlieferten Grab-
funde und Bestattungsplätze der Region standen bislang vor
allem ein Mangel an vollständigen Materialeditionen und
Schwierigkeiten bei der Datierung von Brandgrabbefunden
entgegen. Letztere bilden in Form von Urnengräbern den weit-
aus größten Teil der bekannten Bestattungen. In den meisten
Fällen sind die als Leichenbrandbehälter verwendeten Ke-
ramikgefaße die einzigen chronologisch aussagekräftigen
Fundstücke aus diesen Grabbefunden. Ihre auf stilistischen
Vergleichen basierende Datierung bildet deshalb einen der
Schwerpunkte der Untersuchung und die Ausgangsbasis aller
weiteren Überlegungen.
Eine Klärung der Genese der frühgeschichtlichen Bestat-
tungssitten des Untersuchungsgebietes ist deshalb von beson-
derem Interesse, weil die Landschaft zwischen zwei Regionen
liegt, in denen diese Sitten eine sehr unterschiedliche Ent-
wicklung genommen zu haben scheinen. In den benachbarten
Gebieten Nord- bzw. Nordwestdeutschlands ist in der jün-
geren Römischen Kaiserzeit die Brandbestattung die all-
gemein übliche Form der Totenfürsorge. Die Körperbestattung
ist zwar während dieser Zeit in Einzelfällen nachweisbar, aber
sie bleibt auch in der anschließenden Völkerwanderungs- und
Merowingerzeit ein nur von Teilen der Bevölkerung geübter
Grabritus. Die Totenverbrennung wird hier bis weit in ka-
rolingische Zeit und darüber hinaus beibehalten6. Südöstlich
des Untersuchungsgebietes zeichnet sich dagegen ein anderer
Verlauf der Entwicklung der Grabsitten ab. Die Körperbestat-
tung stieß hier in der östlichen Harzumgebung wie im gesam-
ten mitteldeutschen Raum im 3. und 4. Jh. offenbar schon auf
größere Akzeptanz und wurde seit dem 5. Jh. zur vorherr-
schend nachweisbaren und mit einer Vielzahl von Befunden
belegten Grabform der Merowinger- und Karolingerzeit. Die
Totenverbrennung ist hingegen für das 6. Jh. bislang nur sel-
ten nachzuweisen und scheint weitgehend aufgegeben worden
zu sein7.
Wie im folgenden noch näher erläutert, ist im Untersuchungs-
gebiet beim derzeitigen Forschungsstand ein völliges Fehlen
von jüngerkaiserzeitlichen Körpergräbern und allgemein ein
auffallender Mangel von Grabbefunden des 6. und 7. Jhs. zu
verzeichnen. Vor dem Hintergrund der geschilderten Verhält-
nisse in Nord- und Mitteldeutschland ist dieser Befund bemer-
kenswert und läßt vermuten, daß im Untersuchungsgebiet eine
eigenständige und von beiden benachbarten Großräumen
abweichende Entwicklung der Grabsitten stattgefunden haben
könnte.

1 S. die Verbreitungskarten bei RÖTTING 1985, HELLFAIER u.
LAST 1976 und NOWOTHNIG 1964.

2 Der Raum westlich der Leine weist keine vergleichbar siedlungs-
ungünstigen Eigenschaften auf; s. dazu HÄSSLER 1981.

3 LASER 1965.

4 Besonders SCHMIDT 1961, ders. 1970, ders. 1975.

5 REMPEL 1966.

Zur Entwicklung in dieser Region im Überblick s. SCHWARZ 1991
und HÄSSLER 1991a.
Zur Entwicklung in dieser Region im Überblick: B. Krüger, Germa-
nische Kulturen und Stämme des 3.-6. Jh. und die Völkerwanderung.
In: J. Herrmann (Hrsg.), Archäologie in der Deutschen Demokrati-
schen Republik. 1989, 209 ff. und B. Schmidt, Thüringer, Franken
und Sachsen vom 6.-8. Jh. In: J. Herrmann (Hrsg.), Archäologie in
der Deutschen Demokratischen Republik. 1989,220 ff.

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