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Mannheimer Morgenblatt — 1843

DOI Kapitel:
Mai (No. 102 - 126)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44564#0442
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1

In Mexice v
(Fortfeßung.). '


überfreffen , 1was man fonft von einem Veſuch anzunehmen pflegt;z nie
dauern ſte unter einer Stuͤnde⸗ und maͤnchmaͤl nehmen fie einen groͤßen
Theil des Tages ein. Herren glauben ſich zu jeder Tageszeit willfom:
men; gehft du zum Frühftüc, fo gehen fie au — zum Mittageffen,
foeffen ſie mit — ſchlaͤfſt du, ſo warten fie bis oͤl wach bift‘ —
bift d ausgegangen, ſo kommen ſie wieder. Ein ganz gleichguͤltiger
Menfch, deſſen Name ich vergeſſen habe, kam geſtern naͤch dem Fruͤh—
‚ Hü zu uns, behauptete ſeinen Platz und ſetzte ſich mit uns zu einem
ſpaͤten Diner nieder, Man ſollte dies nichi Befuͤche, fondern Heim-
fuchungen nennen. Ein vffenes Haus und ein offener Tiſch fuͤr Freunde,
zu denen ſelbſt alle oberflaͤchlichen Bekanntſchaften gerechnet werden,
* ſpaniſche Gewohnheiten der Gaſtfreundſchaft, die hieher verpflanzt
ind. ( ;
Maͤnner und Weiber gleichen ſich uͤberall, ob in die anmuthige
Mantilla gehuͤllt oder nach der neueſten Moͤde gekleidet, ob fie einen
ſyaniſchen Mantel, einen mexicaniſchen Sarape vder einen ſchottiſchen
Plaid fragen. Die Weife der Frauen hat hier etwas ungemein Freuud-
liches die ſpaniſche Etikette etwas ungemein Langweiliges. Nachdem
man der Sitte gemaͤß jede eintretende Dame gekuͤßt, waͤs im Gaͤnzen


plaeirt iſt — ein Punkt, der von Wichtigkeit ſcheint — beginnt. noth-
gedrungen folgendes Geſpraͤch: „Wie befinden Sie ſich?“ „Ihnen zu
_ Dienen, und Sie?“ (Sin novedad) „Wie immer, zu Ihren Dienften.“
Sch freue mich, und wie befinden Sie ſich, Sennvra?“ „Zu Ihrer
Verfuͤgung und Sie?“ „Tauſend Dank, und der Sennor?“ „Zu
Ihren Dienften , wie immer!” 20 Ehe man ſich ſetzt, ſagt man: „Bitte,
nehmen Sie Platz.“ „Sie zuerſt, Sennora.“ „Nein, Sennora, Sie
zuerft.“ „Yun wohl, um Ihnen verbindlich zu ſein, ohne weitere Ce-
kemonie, ich haſſe Komplimente und Etikette!“- Und ſie haben ganz
recht, daß wirklich keine Etikette ſtattfindet; all dies ſind blos Zetz
chen des Wohlwollens, Worte, die es bekraͤftigen helfen. Sieht man
ſich des Morgens, ſo geht dieſen Fragen noch eine, wie man die Nacht
zugebracht hat und die Antwort „zu Ihren Dienſten“ voraus. Selbſt
in Mexico bietet das Wetter eine rechtmaͤßige Handhabe fuͤr das Ge-
ſrraͤch dar beſonders wenn es regnet oder zu regnen droht, denn diefe
Umftände erregen Erſtaunen und ftacheln die Beobachtungsgabe; auz
ßerdem haͤlt man Abhandlungen uͤber leiſe Abſtufungen der Waͤrme
oder Kalte, die uns entgangen ſind. Iſt der Beſuͤch abgethan, ſo
kuͤßt man ſich wieder; die Hausfrau begleitet ihren Gaſt bis auf die
Flür und es beginnt ein neuer Phraſenwechſel. „Sennora, Sie wif-
fen, daß wein Haus zu Ihrer Verfuͤgung ſteht.“ — „Taufend Daͤnt,


vin an und befeblen Sie in Allem uͤber mich.“ „Leben Sie wohl, ich
wuͤnſche Ihnen eine gute Nacht.“ Am Ende der Trebbe fieht Dder
Haſt nochmals zuruͤck, um den Blick ſeiner Wirthin zu erhaſchen, und
die Hoͤflichkeiten wiederhoͤlen ſich. Alles, waß mich im Anfang in Er-


Erwaͤhnung verdienen, wenn es nicht einen ergoͤtzlichen Kontraſt zu
unferer gleichguͤltigen und geringſchaͤtzigen Art abgäbe, Beſuche zu em-
pfangen und abzuſtaͤtten.

“ Dreimal bet mir waren, bedienen ſich mir gegenüber derfelben Freiheit.
Unter Weibern gefaͤllt mir dies, doch macht es mich etwas ſtutzig,
went Ich hoͤre, wie junge Leute verheirathete Frauen Maria, Antonie,
Anitta re. nennen; Da aber keine Vertraulichkeit dabei in Anſpruch
genommen wird, fo thaͤte man Unrecht, ſie hineinzulegen.

Dettler! Waͤhrend ich ſchreibe, ſteht mich ein abſcheulicher Le-
pero mit großen laueruden Augen durchs Fenfter an und laͤßt die au-
Berordenfliche Folgenreihe von Seufzern aug feiner Bruft dringen , in:
dem er mir eine Hand mit zwei langen Fingern hinhaͤlt, deren drei
andere wahrſcheinlich nach innen feſtgebunden find.
nprita, der heiligſten Jungfrau zu Liebe! um des reinſten Blutes Chriſti
willen; bei der wunderbaren Empfaͤngniß!“ D der ſchaudervoͤlle Menſch!
ich getraue mich nicht aufzublicken, aber ich fuͤhle, daß ſeine Augen
zuf eine goldene Uhr mit Petſchaften gerichtet ſind, die auf dem Tiſche
liegt. Das iſt das Schlimmſte Daran, 3U ebener, Erde zu woͤhnen Da
kommen ihrer mehrere. Ein gelaͤhmtes Weib das auf dem Rücken etz
nes baͤrtigen Mannes reitet — ein ſtaͤnmiger Kerl, der ausſieht, als






ob ihn nur die Eiſenſtaͤbe vor meinem Fenſter hinderten, wirkſamere
Mittel zu ergreifen, zeigt ein verkruͤppeltes Bein, von dem ich ehrlich
glaube, daß es nur auf irgend eine erfinderiſche Weiſe in die Hoͤhe
gebunden iſt. Welch ein Geheul, welche Lumpen, welch ein Chor von
Klageliedern! Dieſer Zufammenlauf iſt waͤhrſcheiutich daͤhet entftan-
den, daß wir ihnen geſtern einiges Geld geſchickt haͤben. Ich
verſuche keine Notiz von ihm zu nehmen und ſchreibe fort, alg waͤr'
ich taub, ich muß herausgehen, ohne ſie anzuſehen, und den Pfoͤrtner
ſchicken, um ſte wegzuſcheuchen — Klingeln gibt es in dieſem Lande
nicht. Ich komme zum Schreibtiſch zuruͤck kaum von meinem Schre-
cken erholt! Ich hatte ehen das letzte Wort geſchrieben, als ich einen
Schritt neben mir hoͤrte, und — o! eine Elle pon mir ſteht mein

Freund mit dem Beine und ſtreckt ſeine Hand nach Almoſen aus Ich
erſchrack ſo heftig, daß ich einen Augenblick daran dachte; ihm meine


ein paar unverſtaͤndlichen Worten vorbei, um meine Leute zu rufen.


Pfoͤrtner hatte ihn nicht bemerki, als er hinausging um die Menge zu
zerſtreuen. U — iſt hereingekommen und zieht die Gardinen zu —
nun, denk' ich, geht es!

„Eine große Menge von Ausrufern beginnt ihr hundertſtimmi-
ges, zuerſt unverſtaͤndliches Geſchrei mit Tagesanbruch und endet nicht
eher als bei einbrechender Nacht. Beim erſien Daͤmmerlicht weckt einen
der durchdringende verzweifelnde Schrei des Kohlenverkaͤufers: Koh-
len, Sennor!“ was, wie er es ausſpricht, „Carboſin“ lautet. Dann
erſchallt des Feti⸗Manns Lied: „Mantequilla! Speck! Speck! andert-
halb Realen“ u. ſ. w. „Geſalzenes Rindfleiſch“ unterbricht der Schlaͤch-
ter mit rauher Stimme. „Hay cebo-o-o-o-‘“? das iſt der lange und
melancholiſche Ruf des Weibes das den Kuͤchenabfall kauft und vor
der Thuͤre ſtille ſteht. Dann kommt die Cambiata vorbei, eine Art
indianiſches Kramweib oder Vertauſcherin, die „Tejocotes por venas
de Chile‘“ herausſingt. Erſteres iſt eine kleine Fruͤcht, die ſie gegen
ſpaniſchen Pfeffer ausbietet. Ein Hauſtrer uͤbertoͤnt den gellenden Tril-
ler der Indianerin. Er fordert das Publikum auf, Stecknadeln,
Naͤhnadeln, Fingerhuͤte, Hemdknoͤpfe, Zwirnband, Baumwollenknaͤul-
chen, kleine Spiegel ꝛc. zu kaufen. Er tritt in die Haͤuſer und iſt


der Summe anbieten die er verlangt, und meiſt handelsein werden.
Hinter ihm ſteht der Indianer mit feinem lockenden Fruchtkorb, deſſen
einzelne Obſtarten er alle beim Namen nennt, bis die Haushaͤlterin
nicht laͤnger widerſtehen kann, und ihn mit ſeinen Bananen, Oraugen
Ein heller Ruf wird gehoͤrt, der aͤn—
deutet, daß etwas Heißes da iſt und ſchnell erhaſcht werden muß, eh'
es kalt wird: „Gorditas de Norna caliente!“ Fette Kuͤchelchen,
heiß aus dem Backofen! Dieſer Ruf iſt weiblich und im hoͤchſten Schlüfz
ſel. Folgt der Mattenverkaͤufer: Wer wuͤnſcht Matten von Puebla?

Vatten von fuͤnf Ellen Laͤnge?“ Dies ſind die Morgenrufe. — Zu
Mittag werden die Bettler am unverſchaͤmteſten, und ihr Geſchrei, ihre
Gebete und langen Litaneien bilden eine gleichfoͤrmige Begleitung zu
dem uͤbrigen Gelaͤrm. Dann ſteigt uͤber alles der Ruf „Honigkuchen!“
empor. „Kaͤſe und Honig?“ „Requeſon und guter Honig?“ (Reque-
ſon iſt was man hier Quark nennt); dann kommen die „Dulee-Maͤn⸗
ner“, die Verkaͤufer von Eingemachtem, von ſpaniſchem Wind, der
vorzuͤglich iſt und allen Arten von Zuckerwerk: caramellos de esperna
bocadillo de eoco. Dann die Lotteriecollecteure: „Das letzte Loos
iſt noch unverkauft, fuͤr einen halben Real!“ Ein lockender Ruf fuͤr
den faulen Bettler, der es leichter findet, zu ſpielen, als zu arbeiten,
und der dieſe Summe vielleicht in ſeinen Lumpen hat. Gegen Abend
erhebt ſich der Ruf: „Tortillas de cuajada?“ Kaͤſekuchen? oder


der gefuͤhlvolle Entenverkaͤufer: „Enten, o meine Seele, heiße gebra-

Wie die Nacht vorſchreitet, verhallen die Stimmen,

um am andern Morgen von Neuem mit friſcher Macht aufzuwachen.
Fortſetzung folgt.)



B u nte 8. —
+ Bei einer der letzten Soiréen in einem vornehmen Hauſe in Pa-
ris kam der Hr. von P. in eine Gruppe von Bekannten und mußte


ſeine Todfeindin iſt. Jeder andere wuͤrde in Verlegenheit gekoͤmmen
 
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