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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 22.1979

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Böll, Heinrich: [Rezension von: Manfred Fuhrmann (Übers.), Tacitus, Germania, lateinisch/deutsch]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33076#0038
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Italien selbst zu verlassen, um nach Germanien auszuwandern? Nach jenem Teil der Er-
de, der so völlig bar ist aller landschaftlichen Reize, so rauh im Klima, trostlos zum Le-
ben und trostlos zum Anschauen für jeden, dem er nicht gerade Heimat ist.“
Nun, Heimat war’s eben für die Cherusker und Bructerer, Sugambrer, Tencterer, Usiper
... und wie sie da alle geheißen haben, sie, aus denen später die „Deutschen“ wurden; daß
sie sich nicht widerstandslos einfach besetzen ließen, sollte die Römer, Soldaten und Be-
amte, nicht sonderlich überrascht haben, zumal ja - oh, Koran und Chomeini! - mit der
Kultur und der Zivilisation der Eroberer auch „Verderbnis“ nahte, jene „römische Ver-
derbnis“, die auch Tacitus, den Moralisten, beunruhigte. Lob der germanischen Frauen,
Lob der germanischen Ehe, der Sittenstrenge. „Denn in Germanien lacht niemand über
Laster, verführen und sich verführen lassen heißt dort nicht ,dem Zeitgeist huldigen'.“ Da
rollte und wogte in Rom die Porno-Welle, war Korruption gang und gäbe; mit offensicht-
lichem Bedauern stellt Tacitus fest: „Manche (Germanen) haben wir auch schön so weit
gebracht, daß sie Geld nehmen.“ Die Seherinnen Veleda und Aurinia werden respektvoll
erwähnt, die Gegenstand der Verehrung waren, „ohne daß man ihnen aber etwa in niedri-
ger Unterwürfigkeit geschmeichelt oder gar Göttinnen aus ihnen gemacht hätte“. Da sehnt
sich einer nach unverfälschter vestalischer Tradition, einer, der Republikaner und Aristo-
krat war; Tacitus war aus „aller bestem Hause“, ein Cornelier.
Friedlich, Vorläufer der Kollaboration, angelockt und „angekränkelt“ vom römischen
Luxus, blieben sie links, trutzig rechts des Rheins, diese „Wilden“ mit eigener Religion,
eigenem Kult, eigenen Sitten, mit demokratischen Ansätzen in ihrem Gemeinwesen, wie
sie wahrscheinlich in der damaligen Welt kaum zu finden waren. „Die Könige haben keine
unumschränkte oder willkürliche Gewalt, und auch die Heerführer leiten mehr durch ihr
Beispiel als auf Grund ihrer Befehlsgewalt.“ Thing, Rechtspflege, Wehrwesen, ... da ließe
sich zitieren und belegen, daß diese nachmaligen „Deutschen“ ihre Ordnungen hatten,
wenn auch möglicherweise noch keine rechte „Ordnungspolitik“. Widersprüchliche We-
sen, besonders diese germanischen Männer, bei denen „für faul und feige gilt, wer mit sei-
nem Schweiß erwirbt, was er durch Blut gewinnen kann“. Ein unruhiges Volk: „Sie lieben
den Müßiggang und können doch die Ruhe des Friedens nicht ertragen.“ Gastfreundlich,
wild, rauflustig, auch geschwätzig — „dieses Volk, nicht verschlagen noch durchtrieben,
gibt in ausgelassener Fröhlichkeit auch heute noch die sonst tief in der Brust gehüteten Ge-
heimnisse preis“. Das nennt man wohl heutzutage „bierselig“.
Ein Trost für die verrufenen Rheinländer: „Selbst die Ubier, die den Vorzug genießen,
eine römische Kolonie zu sein, schämen sich ihres germanischen Ursprungs nicht.“ Man-
cher republikanisch gesonnene römische Aristokrat hätte das wohl noch herablassender
ausgedrückt. Immerhin: Es galt - und war wohl - als Vorzug, römische Kolonie zu sein.
Der wilde Zug der Cimbern und Teutonen lag schon mehr als zweihundert Jahre zurück,
als Tacitus die „Germania“ schrieb, der Schrecken, den sie verbreitet hatten, war unver-
gessen. Tacitus wußte: „Die Germanen mit ihrem Freiheitsdrang“ waren gefährlicher als
alle anderen Nachbarn des Römischen Reiches, über die Tacitus ziemlich verächtlich spricht,
und es war ja wohl auch kein Zufall, daß die stärksten Truppenkontingente Roms am Rhein
lagen. Die Bangigkeit des Tacitus und anderer hat sich als berechtigt erwiesen: von Norden
her, von diesen Wilden, diesen „Sittenstrengen“ ist das Römische Reich „aufgerollt“ wor-
den.
Klein dem Umfang, groß der Form nach, die „Germania“; hier war jemand am Werk,
der beides mit Entschiedenheit war: Moralist und Ästhet; gestochen die Sprache, Ausdruck,
Mitteilung und „Botschaft“ genau in- und übereinander. Aktuell auch diese 35 Drucksei-
ten, die man nicht ohne Anmerkungen lesen sollte, die vieles erklären, manches Detail
korrigieren. Was Machtpolitik ausmacht, wird in einem einzigen Satz so ausgedrückt: „Heu-
te lassen sie" (die Marcomannen und Quaden) sich auch Könige fremden Stammes gefal-
len. Amt und Macht dieser Könige beruhen auf der Gunst Roms; bisweilen werden sie
durch Waffen gestützt, öfter durch unser Geld, doch deshalb ist ihr Ansehen nicht gerin-
ger als bei der Waffenhilfe.“ ,
Heinrich Böll (aus: ZEIT, 2. März 1979)

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