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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Nr. 1
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Berichte und Mitteilungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0042
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worden ist fürs Theater, weil es nämlich den Erfindungsakt und den Geburtsakt des Theaters
darstellt, daß das nach 2500 Jahren hier gezeigt wird. [...] Die Orestie beinhaltet eigentlich alte
Möglichkeiten, die das Theater zu bieten hat, bereits - wie das ja mit der antiken griechischen
Kunst der Fall war. Das ist das Wunder der griechischen Kunst, daß sämtliche Dinge des Beginns,
der Klassik und des Verfalls bereits im Stadium des Entstehens enthalten sind. So ist es mit dem
Stück auch. Es beinhaltet die wichtigsten Themen, die es für das Theater gibt. Die wichtigsten
Themen des Theaters sind politischer Art; politisch nicht in dem Sinne, wie das irgendwelche [...]
Fernsehkommentatoren verstehen, sondern politisch in dem Sinne, daß es sich um das
Zusammenleben der Menschen handelt. Das ist, was das Schwierigste ist für den Menschen. Wenn
jeder allein auf der Welt wäre - wie Adam, möglichst ohne Eva - , dann wäre eigentlich die Welt
wunderbar, das ist kein Problem; das Zusammenleben ist das Problem. Und das Theater beschäftigt
sich in erster Linie mit den Problematiken des Zusammenlebens, die die Widersprüche und
Konflikte erzeugen. In diesem Stück wird obendrein auch noch etwas beschrieben, also nicht nur
die Politik ganz allgemein, sondern ganz konkret die Politik im demokratischen Sinne; das heißt, es
wird die demokratische Politik als solche, die Möglichkeit, im Zusammenhang der Politik an
Demokratie zu denken, das erste Mal dargestellt und erzählt, wie es dazu kam, daß man so etwas
eingeführt hat. Und in einem Land, in dem nach wieviel hunderten von Jahren der Versuch
gemacht wird - wie erfolgreich, wie gelungen, wie hilflos oder wie absurd zum Teil auch immer -,
doch das erste Mal versucht wird, eine demokratische Staatsform dort einzuführen oder so etwas
wie eine für alle gleichermaßen gültige Rechtsordnung einzuführen, auf die man sich berufen und
verlassen kann; und das ist das zentrale Thema des letzten Teils der Trilogie. Und das ist eine
einmalige Chance, das in einem solchen Lande aufführen zu dürfen, wo ein solcher Prozeß
tatsächlich konkret, zum Teil sehr handfest durchgeführt oder versucht wird. Und das in der Tat ist
eine sehr aufregende Angelegenheit. Ich hoffe, daß sich das durch die Art der Aufführung, durch
die Art, wie die Schauspieler diesen Text verwalten, für das russische - leider Gottes im Augenblick
nur das Moskauer - Publikum sich überträgt. [...]
Abgesehen davon sind alle Tragödien blutrünstig Die Tragödie stellt das menschliche
Zusammenleben als etwas ganz Furchtbares und eigentlich gar nicht zu Lebendes dar, malt
Schwarz in Schwarz. Die höchste Erkenntnis der Tragödie ist die: das Beste für den Menschen ist,
wenn er gar nicht erst geboren wird. Diese Schwarz-in-Schwarz-Darstellung der menschlichen
Existenz hat den großen Vorteil, daß sie sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens sehr
wahrhaftig darstellt Gewiß kann man der Tragödie vorwerfen, daß sie zu schwarz sieht. Aber die
Technik, wfe die Tragödie das macht, zielt darauf ab, daß am Ende, wenn man an einem solchen
tragischen Vorgang teilgenommen, wenn man das gesehen hat, sich in den Menschen herstellt
eine Art von Stolz auf gerade dieses Faktum, daß die menschliche Existenz in ihren Widersprüchen
so verfahren ist, daß es überhaupt gar keinen Ausweg gibt, daß man auch gar keinen Ausweg sieht,
daß man in einer solchen katastrophalen Situation lebt und das auch irgendwie beherrscht und
irgendwie kann; das erzeugt in demjenigen, der das sieht, einen Stolz auf genau diese Tatsache
und dadurch Kraft, das Leben so, wie es sich uns darstellt, zu leben und durchzustehen, in ihm sich
zu bewähren; und das ist das Ziel der Tragödie Das mag vielleicht ein bißchen pervers klingen, aber
das haben sich so die alten Tragiker ausgedacht. Das nennt man übrigens Afafhars/'s, diesen
Vorgang; das reinigt etwas; es kommen bestimmte Dinge ans Tageslicht und heraus: negative,
aggressive, blutrünstige Aspekte des Denkens, des Fühlens, des Empfindens oder auch des Ahnens
nur; und im Betrachten und Nachvollziehen-Können dieser Vorgänge entsteht das, was ich als
Kraftgefühl oder sogar Stolz auf die menschliche Existenz bezeichne."

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