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Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschr. für Humor u. Kunst — 36.1899 (Nr. 419-431)

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https://doi.org/10.11588/diglit.16697#0059
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Meggendorfers humoristische Blätter.

5i

Die Depesche.

Löffich.

Angeklagter! „Nein, darf ich bitten, inich vorzustelleni"

Gönnerin auf dein Bahn-
Iteige. Der Lchnellzug
nach Leipzig solltc in ei-
ner viertclstunde abgeh-
en. Ls war ncun Uhr
zweiundvicrzig UUnuten,
als der von inir init stei-
gender Unruhe erwartete
Zug einlief. Frau Marie
winkte uiir eifrig zu, und
ich eilte, die waggon-
thüre zu öffnen und der
Enädigen herauszuhel-
sen, die sich nicht ohne
Grund ün hellsten Reise-
fieber befand. In der
That, jeder Augenblick
war kostbar, das bcgriff
ich sofort, als ich sah,
was die Dexeschc alles
verschwiegen hatte.

Wortlos und mit der
Fertigkeit, die ich so oft
an deni niederen Post-
pcrsonal beim Entleeren
der Liscnbahnpostwagen
bewundert hattc, nahui
jch von einem noch iin
waggon befindlichen
Dienstinädchen unge-
zählte Aolli entgegen,
worauf das Mädchen
selbst entstieg und die
beiden Sprößlinge derer
v. Schmelen, im Alter
von zwei und drei Iahren, heraushob. Den Strauß Nelken
zwischen den Zähnen, die bsändc voll Gepäckstiicke, eilte ich,
von allen gefolgt, nach dem Schnellzuge, in den Frau Ularie,
die noch keinen Ton von sich gegeben hatte, zuerst einstieg, um
von oben die verladung zu leiteu. „Lrst das Gepäck," kom-
mandierte sie, „dann Luise Sie, der kserr Assessor reicht Zhncn
dann die Bengels." Ich gehorchte; ein Gepäckstiick nach dem
andern slog auf die Polster, denn der Zugfiihrer hattc bereits
das Abfahrtssignal gegeben, und eben hatte auf meinen ener-
gischen wink von mir „Luise" sich auf das Trittbrelt ge-
schwungen, als der Zug sich auch schon in Bewegung setzte.
„Die Zungens, die Zungensl" schrie ich und lies, diese hinter
mir her zerrend, dem waggon nach, in welchem ich das Uiädchen
verschwinden sah, während unmittelbar darauf Frau Marie
unter der noch geöffneteu Thiirc crschien und verzweiflungsvoll
inich herbeiwinkte. vergebiich, der Zug ging bercits in volle
Fahrgeschwindigkeit iiber, und ich konnte nur noch das tvort
„Notsignal" mit Ausbietung all meiner Stimmmittel nachschreien,
um dann zu sehcn, daß der Schaffncr die waggonthiire schloß
uiid, augcnscheinlich iiber die vorgängc ahnungslos, aus dem
Trittbrett weiter eilte.

Auf nieinem Gesichte mag sich nicht gerade cin besonderer
Gedankenreichtum ausgeprägt haben, als ich den Zug jetzt um
eine Biegung verschwinden sah. Ich war versiiiumt und auch
meine Gehörnerven mußten wohl eine Zeit lang ausgesetzt
haben, denn plötzlich vernahm ich neben mir das Gcbrnlle inei-
ner mutterlosen kleinen Reisenden, die von mir wenig entzückt
zu sein schienen. Sie hatten wohl schon seit tNinuten ihren
Gefühlen freien Laus gelassen, das schloß ich aus der Zahl der

vie vepesche.

Gaffer, die sich um uns angesammelt hatte. Man konnte mich
siir cinen Familienvater halten, dcm seinc Frau, mit lsinter-
lassung der beiden Unterpfänder ihrer Liebe, durchgegangen war,
so mag ich wohl ausgesehen haben. Das Lrgertc mich und ich
sliichtete mit den beiden Schreihälsen in die Restauration, wo
ich ihncn ein Bcruhigungsmittel in Gestalt von Schokoladc ver-
abfolgte und ihnen vorlog, daß wir nachher zur Mama kämen.
Beides wirkte, und ich seierte einen etwas verfrühten Triumph
in dem Bewußtsein ineiner Findigkeit bei Behandlung kleiner
Kinder. Dann studierte ich den Fahrplan. Frau Marie konntc
im giiustigsten Falle am solgenden Morgen um siebeneinhalb
Uhr wieder zu dem Genusse ihrer Mutterfrcuden gelangen.
Bis dahin hattc ich den vorzug, Mutter, wärterin und noch
etwas anderes zu sein, von dein ich vorläufig noch keine Ahn-
ung hattc. Uebrigens benahmen sich meine beiden Gastfreunde
zunächst recht gesittet, was ich hanptsächlich der Schokolade zu-
schrieb, von der ich schleunigst noch mchr kauftc.

Da es einen verein zur Unterbringung von auf Bahnhösen
zurückgelassenen Aindern nicht gab, so mußte ich jetzt meine
Dispositioncn für die Nacht treffen.

Ich gab also solgcndc Generalidee aus i Selbstredend wür-
den meine Gäste in meineiii Bette liegen, während mir das
Sofa verbliebc, dessen Bauart allerdings mehr fiirs Auge oder
snr Leute berechnet war, die wegen ihrer Berufspslichten nachts
nicht schlafen dürfen. Am andern Morgen wttrde ich mit Hilfc
meiner wirtin die Toilette der !)errschaften unterstützeii und
der alsdann hoffentlich erscheinendcii besorgten Mutter ihre
milchgesättigten Ainder überreichen können. Ich war crfreut,
 
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