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tiefer gerückt war, und diefeVerfchiebung notwendige Modifikationen derWirkung auf den Be-
trachter zur Folge hatte. Man ahnte nicht, daß fich hier eine derWandlungen vollzog, die die Ge-
fchichte fchon dutzendemale vorher erlebt hatte.
Denn was anderes unterfcheidet eine Kunftepoche von der vorhergehenden, eine Menfchheit von
der andern, wenn nicht dieferWandel der Erregung. Das Objekt, Natur,Welt und das Gefetz,
alles bleibt immer dasfelbe. Nur das Subjekt wechfelt. Die Maße erneuern fich. Jede Veränderung
des Maßftabes aber empört die Menge und muß fie empören, denn fie vollzieht fich gegen ihren
Willen und nimmt für fie daher fofort den Charakter der Demütigung an. Delacroix malte die
Dinge wie Schlachtenbilder, das ließ fich der Mob gern gefallen, auch wenn er durchaus nicht
fchlachtenmäßig gefinnt war. Courbet malte gefteigerte Materie und wurde für einen Materialiften
genommen. Auch er generalifierte, nur mit einem anderen Koeffizienten. Zugegeben, daß feine
fummarifche Methode Opfer verlangte, die den Befitz der Kunft an wunderbarenWerten, gerade
an denWerten, die Delacroix foeben noch einmal gefammelt hatte, dezimierten. Es ift die Frage,
ob der Befitz nach Delacroix noch länger zu halten war, ob nicht das Selbftgefühl verarmter Erben
gebot, nach neuen Symbolen für die gründlich veränderte Zeit zu fuchen, wenn anders nicht die
Phrafe an Stelle des lebendigen Sinnbildes treten follte. Die zweite Anatomie Rembrandts hat in
einer anderen Epoche ficher nicht weniger ungeiftig gewirkt. Courbet unterließ nichts, um fich
fo unfympathifch wie möglich zu machen. Er barft vor Lachen, wenn man ihm von Seele fprach,
und fand nicht die Zeit zur Einficht, noch dieWorte, noch war er fich felbft im Grunde bewußt,
daß über den Begriff Seele auch in feinen Sachen fehr wohl zu diskutieren war, fobald man fich
nicht darauf befchränkte, immer nur die in überlieferten Formen wirkende Seele in Aktion fehen
zu wollen.Wir fanden im Anfang Beziehungen zum Maler der Dantebarke. Diefe verfchwinden
im Laufe der Jahre, aber treten in der Blütezeit, den fechziger Jahren, wieder hervor. Nur weniger
wörtlich, auf größerem Fuß, in würdigererWeife. Nicht auf der Legende beruht Delacroix’ Be-
deutung, fondern in feiner dämonifchen Fähigkeit, die Fläche vibrieren zu machen. Diefe Dämonie
war auch Courbet gegeben, während fie z.B.dem Romantiker Ingres verfagt blieb. Es gehörte
nichts fo fehr als feine Phantafie dazu, um die Flecken zu erfinden, aus denen er die gehaltreiche
Materie feiner Bilder fchuf. Leichter wird der mittelbare Anfchluß an Daumier erkannt. Ihn fahen
fchon die Zeitgenoflen. Man warf Courbet vor, fich an Daumiers Karikaturen zu infpirieren und
Hogarth den Rang ftreitig zu machen. Das erfcheint heute weniger fchimpflich als vor 60 Jahren, als
man mit diefem Vergleich fowohl das fiktive Vorbild wie den vermeintlichen Nachahmer fchmälern
wollte. Daumiers ftarklinige Zeichnungen mögen Courbet wohl gefallen’haben, auch wenn er fich
aus anderem Holze fühlte. Näher aber war ihm der große Maler Daumier, der Schöpfer des „Wag-
gon de III. Classe“ ufw. In manchen Skizzen Courbets wie der prachtvollen Studie zu dem „Retour
de la Conference“, dem Hauptwerk des Jahres 1862, glaubt man einen Niederfchlag Daumiers zu
finden. Noch deutlicher, ja, ganz unverkennbar ift die Beziehung zu einem anderen, von Delacroix
und Daumier hochgefchätzten Meifter derfelben Zeit, zu Decamps. Decamps und Courbet find
naheVerwandte, nicht nur als Tiermaler, als die fich beide derfelben breiten Art bedienen — die
beiden Hunde auf der „Curee“ fehen den berühmten Kötern Decamps’ ähnlich —, überhaupt als
Bildnismaler, wenn man die Fleifchmalerei Courbets fo nennen kann und auch Bildnifle vonVier-
füßlern alsPorträts zuläßt. Es ift diefelbe Sachlichkeit, die auf gleichemWege zum Monumentalen

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