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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0044
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Auswahl
und Umgestaltung
der natürlichen
Erscheinungen
nach Massgabe
ihres Wertes als
künstlerischer
Vorbilder.

verrät die lebende Natur deren Wachstum, Erhaltungs- und Lebensthätigkeit, sowie in den dafür not-
wendigen Organen deren Funktionen in so bezeichnender Weise, dass dieselben eben nur der formale
Ausdruck für diese jedesmaligen Bedingungen sein können. Das entsprechende Glied auch der ver-
wandtesten Geschöpfe bildet sich für Lebensweise, Ernährung, für den Kampf ums Dasein, für die Be-
dingungen des Elementes, in welchem es sich bewegt, auf das besonderste aus. Der Fuss des Säuge-
tiers formt sich für seine Gangart auf dem Boden, der des zweigbewohnenden Vogels zum Greifen, der
des schwimmenden zum Ruder; das Vorderbein wird im Menschen zum Arm, im Vogel zum Flügel, im
Fische zur Flosse. Schnauze, Rachen, Gebiss und Schnabel prägen in den verschiedensten Formen die
Ernährungsweise und die damit verbundene Thätigkeit des Mundes aus; für seine Verteidigungsart sind
die Hörner, Zangen, Stacheln die wechselnden Bilder, wie seine Beine für die Fähigkeit des Entrinnens
aus der Gefahr. Anders bildet die aufrecht wachsende Pflanze ihren Stengel, als das Schlinggewächs ;
die Blätter des letzteren wandeln sich in die ausdrucksvollen Formen der Haftorgane, die der Wasser-
pflanze zu schwimmenden und wurzelartigen Gebilden um; die Schutz- und Stützblätter charakterisieren
durch ihre Bildung struktive und funktionelle Zwecke und die der Fortpflanzung dienenden Blätter
zeigen in Stempel und Staubgefäss ihren besonderen Dienst.
Legen somit die Naturerscheinungen durch ihre Gedanken und Zweck verkündenden Formen
in eindringlichster Weise die Aufgabe nahe, auch das künstlerische Erzeugnis in seinen Werk-
formen zweckdienlich und in seinen ornamentalen Formen ausdrucksvoll zu schaffen,
so leihen sie sich dem Künstler für diese Aufgabe nur in seltenen Fällen ganz un-
mittelbar. Wohl ist in den Kunstformen eine unendliche Reihe verwandter Ideen enthalten, die in
den Naturformen auch ihre Bilder finden, selten decken sich dieselben aber ganz, meist beschränken
sich diese Analogien dagegen nur auf einzelne Elemente. Während die eine Eigenschaft der Naturform
sie für die künstlerische Benutzung geeignet erscheinen lässt, widerspricht eine andere derselben voll-
kommen. Der Künstler ist daher gezwungen, nicht nur eine Formenauswahl, sondern auch
Formenumwandlungen mit dem natürlichen Vorbilde vorzunehmen, indem er es mit
der geeigneten Bildung eines anderen, welcher Artes auch sei, für die Lösung seiner
besonderen Aufgabe in harmonischer Weise verschmilzt. Die angeführten Beispiele haben
uns schon gezeigt, wie die Kunst dazu auch die sich fernstehendsten Bilder vereinigt.
Vor allem vollzieht sich der Aufbau und die Zusammensetzung des Kunstwerkes nach Be-
dingungen, die in ihren selbständigen Ideen nur ausnahmsweise etwas gemein haben mit denen der
natürlichen Wesen und schon deshalb kann sich die Übernahme ihrer Formen häufig nur auf einzelne
Teile und dann auch nur auf einzelne Formenelemente dieser Teile beziehen; der Künstler muss die
natürliche Formenreihe infolgedessen aufgeben und ihre Teile in einer Weise verbinden, welche der
organischen Gliederfolge der Natur oft geradezu widerspricht. In dieser Weise verfährt die Kunst,
wenn sie für Stützen, in denen die ganze Gestalt des Vorbildes keinen Platz findet oder zu anspruchs-
voll und für ihren Zweck überkräftig wirken würde, Kopf und Füsse — auch verschiedener Wesen -—
entweder unmittelbar oder mit Hilfe vegetabiler Formen aneinanderreiht, oder sie sogar unvermittelt
an ganz abgezogene, rein architektonische Glieder ansetzt, wie es die Füsse antiker Tische und
Untersätze, die Hermenformen und eine Menge von Gebilden der Kleinkunst sehen lassen; das-
selbe findet statt, wenn die mittelalterliche Kunst den Dreifuss der Leuchter aus Fabelgeschöpfen,
die Antike aus Raubtierklauen zusammensetzt und diese Formen unter sich und mit dem pflanzlich
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