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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0045
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gestalteten Schafte durch Kelchformen, Deckblätter und Spiralen verknotet, indem dabei selbst
die leblosen Erzeugnisse des Menschen mit diesen organischen Formen durchsetzt und verquickt
werden.
Diese mit Rücksicht auf ihre Vorbilder oft ganz willkürlichen Verbindungen ihrer Formen werden
dem Gefühle aber dadurch nicht nur annehmbar, sondern auch verständlich, dass sie sich der im ge-
danklichen Aufbau des Kunstwerkes enthaltenen und durch sie bedingten Folge seiner Glieder voll-
kommen anpassen. Indem die Kunstformen durch die Verwendung und Reihung der Vorbilder die
Bildungsgesetze des Kunstwerkes erfüllen, treten sie in die Rechte der natürlichen Erscheinungen und
gewinnen deren überzeugende Kraft und wirkliche Lebensfähigkeit. Noch mehr: die Erfüllung dieses
künstlerischen Bildungsgesetzes gewährt allein dasselbe Gefühl der Befriedigung, welches die Betrach-
tung der natürlichen Formen und ihrer Verbindungen hervorruft, während die blosse Nachahmung der
letzteren über die Bedingungen des Kunstwerkes hinaus nicht nur nicht überzeugend, sondern sogar
widernatürlich und verwirrend wirkt. Die Gleichnisse der Kunstformen sind darin in ähnlicher Weise
gebunden, wie die Vergleichsbilder, welche wir zur Erklärung unserer Gedanken in der Sprache ge-
brauchen: die Ausschmückung derselben im Witze (dem Gleichnisextrakte) oder zur Verständlich-
machung einer Idee, welche über ihren Kernpunkt hinausgeht, vermehrt nicht, sondern vermindert ihre
Wirkung; so steigert auch im künstlerischen Analogon jede über dessen Zweck hinausgehende Nach-
ahmung des Vorbildes nicht nur nicht den Ausdruck der Form, sondern sie zieht von ihm ab. Die
bescheidenen, aber ausdrucksvollen Knospentriebe der architektonischen Ornamente des frühen Mittel-
alters erhöhen in ihrer knappen, übertragenen Anwendung natürlicher Formen die strebende Kraft
seiner Bauglieder; das geil ins Kraut schiessende Blattwerk ihrer Spätzeit erstickt gleich der Ruinen
umhüllenden Schlingpflanze die Linienklarheit der Architektur, ohne die Höhenrichtung derselben durch
sein organisches Element gleich wahrnehmbar zu versinnlichen.
Alle Verwendungen der Vorbilder erscheinen um so überzeugender, je treffender und mit je
feinerem Gefühle sie den Bedingungen der Kunstformen angepasst sind, je mehr sie deren wechseln-
der Bedeutung auch durch das Mass ihrer Ausdrucksfähigkeit entsprechen. Um bei unseren
früheren Beispielen zu bleiben: wenn das Bild der zarten Blume und ihres fein-schwanken Stengels
gebraucht wird, um das leichte Öllämpchen des griechischen Standleuchters zu tragen, für den Schmuck
des die Balkenlast aufnehmenden Kapitells aber die stengelumgebenden Stützblätter des Pflanzen-
schaftes gewählt sind, welche den fortlaufenden, kräftigen Säulenstamm nur begleitend umschliessen,
während dieser als die wirklich thätige Stütze erscheint, so befriedigen diese Bilder unser Gefühl für
die Bedeutung und Wirkung der geschmückten Gegenstände. Wenn der dünne Schaft der Ornamente
oder die gefässtragende Schmucksäule mit den lebendig sich aufwärts bewegenden, gestreckt-spiraligen
Gratbildungen geziert sind, welche manche sich drehende Pflanzenstengel aufweisen, so entspricht dieses
Analogon vollkommen der treibenden Wuchskraft des ersteren, widerspricht aber auch noch nicht dem
Ausdrucke der Festigkeit, welchen wir in Bezug auf die spielende Kraftleistung der letzteren verlangen;
wenn aber umfängliche, schwere Gebälke tragende Säulen das Bild eines flachgedrehten Taues nach-
ahmen, welches in hohem Masse spannende, in seiner Vertikale aber nie tragende Kräfte besitzt, so
fühlt sich Auge und Sinn durch die Unwahrscheinlichkeit des Bildes verletzt. Wenn die leichten Blumen,
in welche die Stengel der Rankenspirale auslaufen, in der Zeit der Spätrenaissance durch Tierköpfe
ersetzt werden, mit denen sich der Begriff einer Schwere verbindet, der jener Stengel nicht gewachsen

Abziehung
der Naturformen
und Anpassung
des Masses ihrer
Bildwirkung an
die Kunstform.

Treffende und fal-
sche Anwendung
der Vorbilder.

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