Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meyer, Alfred Gotthold
Oberitalienische Frührenaissance: Bauten und Bildwerke der Lombardei (1. Theil): Die Gothik des Mailänder Domes und der Übergangsstil — Berlin: Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Gropius'sche Buch- und Kunsthandlung, 1897

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.67334#0033
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Raumgestaltung.

23

Theilen, die 1391 verbürgtermafsen schon vorhanden waren. Wie skeptisch vollends hätte
ein in den deutschen oder französischen Bauhütten geschulter Durchschnittsmeister mittel-
alterlicher Gothik vor und gar in dem vollendeten Bau gestanden! -— Wenn er aber
ein rechter, vorurtheilsfrcier Künstler war, so hätte er die Bedenken seiner Schultradition

wohl bald vergessen und nur noch staunend die Eigenart dieses Werkes bewundert. Von

der Wirkung, welche das Innere einer stilgerechten gothischen Kathedrale, wie etwa das
Langhaus des Strafsburger Münsters oder des Kölner Domes, ausübt, ist der Gesamt-
eindruck, den man beim Betreten und Durchwandeln des Mailänder Domes erhält, aller-

dings grundverschieden. Die Schlagworte für den gothischen Stil: organisches Leben, Auf-

lösung der Massen, Zerlegung in Einzelglieder,
Verticalismus, haben hier keine Geltung.
Nicht als gothischer Pfeilerwald erscheinen
die stützenden Glieder, nicht als Verkörperung
hochstrebender Kräfte, die in den Gewölben aus-
gelöst werden, sondern nur als eine Schaar von
gewaltigen Mauerpfeilern, wie sie etwa in antik -
römischen Thermenräumen oder in den romani-
schen Kirchen Oberitaliens als Gewölbeträger
fungiren, gleichsam mehr passiv, aber um so zu-
verlässiger hinsichtlich ihrer statischen Leistungs-
fähigkeit. Der majestätische, überwölbte Binnen-
raum (Taf. 1) wirkt hier weit mehr durch seine
enormen Gröfsenverhältnisse an sich, als durch
jenes organische Leben der ihn umgrenzenden
und theilenden Bauglieder, welches in der echten
Gothik des Nordens selbst einen relativ kleinen
Raum bedeutend erscheinen läfst. Aber welcher
unbefangene Besucher des Mailänder Domes wollte
leugnen, dafs diese Raumwirkung an sich einen
ganz eigenartigen Zauber besitzt? Der Höhenunter-
schied zwischen dem Haupt- und den angrenzen-
den Seitenschiffen ist so gering, dafs der Gesamt-
eindruck des Inneren fast dem einer dreischiffigen
Hallenkirche entspricht, die Breitendifferenz aber
so wesentlich, dafs die beiden Seitenschiffe über-
haupt nur als Einfassung der Mittelhalle erscheinen.
Diese beherrscht das Ganze, und die gothische
Baukunst vermag dieser majestätischen Triumphal-
strafse, diesem cours d’honneur der Kirche, welcher


Abb. 3.
Grundrifs des Mailänder Domes.

Tausenden eine bequeme riesenhafte Wandelbahn gewährt, wenig Ebenbürtiges gegenüber
zu stellen. Eher wird man an die mächtigen Mittelschiffe unserer deutsch-romanischen
Dome gemahnt oder auch wieder an Römerbauten der Kaiserzeit. In ganz individueller
Weise endlich eint sich dieser grofsartigen, festlichen Wirkung des Raumes die feierliche,
mehr dem kirchlichen Charakter entsprechende seines Lichtes.1) In jene Haupthalle fällt
es durch die niedrigen Fenster der Obergaden und die schmalen Fenster der Aufsenwände
nur spärlich, aber je mehr man vorwärts schreitet, dem Herzen des Ganzen, dem Altäre,
zu, um so heller und heller wird es: die Wände des Querschiffes sind fast völlig in
Fenster aufgelöst, auf die Vierung strömt das Licht von oben in vollen Strahlen herab,

1) Allerdings kennzeichnet gerade die Beleuchtung und ihr Verhältnifs zur b ensteranlage die
fundamentalen Unterschiede der nordischen Gothik gegenüber, und die Thatsache, dafs die Zahl der
Fenster weit gröfser ist als die der Lichtquellen, charakterisirt sehr scharf die unconsequente Anwen-
dung architektonischer Formen: so führt die obere Reihe der Langhausfenster aufsen nicht dem Inneren
Licht zu, sondern geht auf die Gewölbe.
 
Annotationen