Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
24

Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.

und hinter dem Altar vollends breiten die drei Riesenfenster des Chores als schönsten
Abschlufs ihren lichtgetränkten Farbenteppich aus.
So sind schon im Inneren Raum- und Lichtwirkung Ausdruck einer selbständigen
architektonischen Phantasie, welche bereits an sich, ganz abgesehen noch von jeder decora-
tiven Schmuckform, genügen könnte, um dem Mailänder Dom eine Sonderstellung in der
Baugeschichte zu sichern. Und eine solche darf er dann vollends doch zweifellos durch
seine Bekrönung beanspruchen. Diesen fünfschiffigen hohen Riesenbau mit flachen
Dächern abzuschliefsen, die gestatten, auf ihm gleichsam wie auf der Plattform eines
künstlichen Marmorberges zu wandeln1) — das ist ein Gedanke, welcher den Grundprincipien
nordischer Gothik Hohn spricht, aber er ist echt italienisch und ruft wiederum unwill-
kürlich die jeder materiellen Schwierigkeit spottende Cäsarenbaukunst ins Gedächtnifs.
Und nicht minder eigenartig wirkt nordischer Gothik gegenüber der mächtige Vierungs-
thurm, der inmitten dieser Plattform aufragt, das von Anbeginn geplante, dann freilich
veränderte „Tiburium“, welches sich in Deutschland mit ähnlichen grofsen Verhältnissen
nur an romanischen Kirchen, in England und Frankreich ähnlich auch an gothischen Kathe-
dralen findet, in Mailand selbst jedoch wohl unmittelbar unter dem Einflüsse des grofsen
Vicrungsthurmes der Cisterzicnserkirche von Chiaravalle entworfen wurde.
Der bauliche Organismus des Mailänder Domes in seiner Gesamtheit fügt sich also
weder der italienischen Ueberlieferung, noch dem Schema nordischer Gothik; Theile von
beiden treten in ihm nebeneinander zu einem Product, wie es nur aus der Eigenart der
Aufgabe selbst und des bei ihrer Lösung eingeschlagenen Weges entstehen konnte.
Dieser Pfad war zum Thcil ein unfreiwilliger. Man wurde zu ihm von vornherein
dadurch gezwungen, dafs man sich sehr bald genöthigt sah, fremden Rath einzuholen, und
dafs man denselben dann nicht für das Ganze, sondern nur für die jeweilig in Frage stehen-
den einzelnen Theile beanspruchte, über die man einzeln verhandelte und in Sonder-
concurrcnzen entschied. Allein selbst hinsichtlich dieser einzelnen constructiven Theile, der
Stärke der Mauern und Pfeiler, der Gewölbe und ihrer Widerlager, fügte man sich keines-
wegs unbedingt dem fremden Rath, sondern nahm ihn gleichsam nur „ad notam“, fast
geflissentlich darauf bedacht, von den fremden Regeln abzuweichen.
Gewifs zeigt die Architektur des Mailänder Domes nur eine mifsverstandene
nordische Gothik, aber dieses Mifsverständnifs ist meist ein bewufstes, gewolltes. Es
spiicht aus ihm der nationale Ehrgeiz, trotz aller fremden Hülfe etwas Selbständiges zu
leisten, und er hat sein Ziel glänzend erreicht. Einzelne constructive Elemente nordischer
Gothik im Dienste oberitalienischer Baugedanken — das ist das Problem, dessen eigenartige
Lösung der Mailänder Dom vor Augen stellt, darauf beruht die Individualität, welche er
in der Reihe mittelalterlicher Kirchen baugeschichtlich besitzt. —
Dies gilt für die Bedeutung des Mailänder Domes innerhalb der Geschichte der
gothischen Architektur, für seine Raumgestaltung und seinen constructiv bedingten Auf-
bau. Welches aber ist sein Verhältnifs zum gothischen Decorationsstil, welcher Art
sind die Schmuck form en, die sich in so unvergleichlicher Fülle über diesen Riesen-
bau breiten?
Seltsamer Weise fehlt für die kunsthistorische Beantwortung dieser Frage bisher
fast jede Vorarbeit. In den Handbüchern begnügt man sich hier meist mit der Bemerkung,
dafs nur der kleinste Theil der Decoration afuf das Mittelalter zurückgehe, und an dem
übrigen nur der äufsere Reichthum zu rühmen sei; und selbst in den Monographien

i) Die Frage der Dachbildung wurde in der Hauptsitzung der Baucommission vom r. Mai 1392
dahin entschieden: „quod ipsa ecclesia debet et habet pluere pro majori fortitudine et claritate in tribus
tectis et non in duobus“ (Ännali I. S. 68), allein noch am 16. April 1411 wird darüber verhandelt, ob das
Dach mit Metall oder mit Marmorplatten abzudecken sei (Annah I. S. 310). Wie jedoch schon Beltrami
(a. a. O. S. 30. Anm. 1) hervorgehoben hat, bezieht sich diese Verhandlung auf einen dem ursprünglichen
Plan widersprechenden Vorschlag, an Stelle des in Aussicht genommenen Marmordaches Metall zu wählen.
Er wurde durch den Beschlufs „tectamen fieri debere in ala cum copertura lapidum marmoreorum“
endgültig zurückgewiesen.
 
Annotationen