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Erstes Capitel.
Die Gothik des Mailänder Domes und ihre
decorative Plastik bis zum Jahre 1450.
„La grande originalitä di qucsto
monumento, ehe non e tedesco,
ne francese, e neppure italiano. “
Guiseppe Brentano.

rotz aller ihr so eifrig und erfolgreich gewidmeten Studien bietet die Mailänder
Kathedrale dem Kunsthistoriker noch immer eine Fülle unbeantworteter Fragen,
deren Zahl und Tragweite ihm um so empfindlicher wird, je mehr er sich mit
ihnen beschäftigt. Nicht nur auf das Auge, sondern auch auf den historisch -
kritischen Sinn übt dieses Bauwerk einen ganz eigenartigen Zauber aus. Seine Wirkung
durchläuft gleichsam drei Stufen, von denen die meisten Besucher freilich nur die
beiden ersten zu kennen pflegen. Der Eindruck des Acufseren an der Chorseite und
der gewaltigen Hallen des Inneren mufs auf jeden Unbefangenen überwältigend wirken:
so bedeutend, dafs der vergleichenden Kritik vorerst kein Feld bleibt. Sobald diese aber
einsetzt, beginnt die zweite Etappe, und sie endet auf Grund der hergebrachten, aus der
Gothik des Nordens abgeleiteten Stillchre in einer Verurtheilung, welche dem Bau die
höhere Einheit, die innere Folgerichtigkeit und Harmonie abspricht und in ihm nur die
arg verkümmerte Entwicklung eines auf falschen Boden gerathenen Keimes sieht. Die
schönste Blüthe, ja die Lebenskraft nordischer Gothik scheint in ihm verständnifslos zer-
stört, und das Ganze letzthin nur dem laienhaften Geschmack an stofflichen, quantitativen
und allenfalls phantastischen Reizen erfreulich! — Wer sich jedoch durch diese, gerade von
kunstwissenschaftlicher Seite gar zu eindringlich gepredigte Lehre nicht von einem weiteren
liebevollen Studium dieses stilistischen Zwittergeschöpfes zurückhalten läfst, wird für dessen
gerechte Würdigung noch andere Gesichtspunkte gewinnen. Je nähere Zwiesprache man
mit diesem Bauwerke hält, um so mehr vergifst man die bei der kunsthistorischen Classi-
ficirung hergebrachten Formeln, lauscht wieder nur unmittelbar auf das, was das Denkmal
selbst erzählt, auf diesen wechselnden Ausdruck einer völlig eigenartigen Entwicklung, und
ist zuletzt bereit, in diesem Sinne dem Mailänder Dom eine selbständige Bedeutung
einzuräumen, welche aufserhalb aller theoretisch zu begründenden Stilregeln und Stil-
widrigkeiten liegt. Der ganze Bau wird dann gleichsam zu einem mit durchaus persön-
lichem Leben begabten Organismus, der nur genetisch, nur aus seinen völlig eigenartigen
Lebensbedingungen heraus verstanden und erklärt werden kann und den richtigsten Mafs-
stab für seine Werthschätzung in sich selber trägt. — Aber es gilt dann auch, die Ge-
schichte dieses Organismus bis in ihre feinsten und verschlungensten Fäden zu verfolgen,
die Nachrichten der — übrigens noch keineswegs stets vollständig und genau veröffent-
lichten — Bauacten Schritt für Schritt auch in allen Einzelheiten zu sammeln, zu illu-
striren und gegebenen Falles zu berichtigen; kurz, dem bisherigen Gesamtbild der Bau-
geschichte, welches besonders Camillo Boito1) mit künstlerischer Hand so geistvoll
1) II Duomo di Milano. Milano 1889. Die ungemein reiche, seit 1889 aber nur unwesentlich
vermehrte Literatur über den Dom hat als Anhang zu diesem Werk Filippo Salveraglio zusammengestellt.
Eine knappe vortreffliche Skizze der Baugeschichte bietet Giulio Carotti in den ersten Capiteln seines
kleinen Buches: II Duomo di Milano e la sua facciata. Milano 1888; vergl. ferner dessen Aufsatz: „Vicende
del Duomo di Milano e della sua facciata. Archivio storico dell’Arte. II. 1889, S. 113 ff.
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