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Giganten.

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liehen Gigantenpaaren der Pfeiler zwischen den beiden Sacristeifenstern, obgleich hier die
unteren, von unten gesehen, wenig glücklich scheinen. Zwei von ihnen, die ganz in
Rückenansicht gegebene Figur eines nackten Atlanten, welcher mit völlig unnatürlicher
Kniebeugung unter der Last des riesigen Widder-Spciers vorwärts schleicht, und sein zwei
Gcfäfsc haltender Nachbar, an dem ein Affe emporklettert, gehen in ihrer Gesamterschei-
nung sogar über die Giganten der Guglia Carelli kaum wesentlich hinaus. Allein bei näherer
Prüfung zeigen doch auch sie die gut durchgearbeiteten Köpfe und die tüchtigen Details
der oberen Reihe. Dieselbe besteht aus gebückten, bärtigen Männern, Mantelfiguren genre-
hafter Art, und einem emporblickenden Jüngling in kurzem Wams. Aehnliche Arbeits-
weise bei freilich oft recht steifer Haltung bekunden dann die Giganten an den folgenden
Wandpfcilern: schreitende Jünglinge und Actfiguren in Rückenansicht, wenn die obige
Idcntificirung zutrifft, wohl meist von den Händen des Matteo Raverti und des Jaco-
pino da Tradate.
Diese im obigen bezeichnete Gruppe der Giganten hat eine nicht geringe kunst-
geschichtliche Bedeutung. Eine Reihe vereinzelter Beobachtungen, welche bei der voran-
gehenden Erörterung der baulichen und figürlichen Trecentodecoration des Domes nur
gelegentlich hervorgehoben worden sind, schliefscn sich hier folgerichtig zusammen und
eröffnen einen überraschenden Ausblick auf die kunstgeschichtliche Stellung der lombar-
dischen Plastik in den ersten Jahrzehnten des Quattrocento, auf der Schwelle der Früh-
renaissance. Zum ersten Male tritt dabei die bisher nur gestreifte Beziehung der lombar-
dischen Uebergangskunst zu den schon bekannten Stilbildern der gleichzeitigen veneziani-
schen und Florentiner Plastik in ein einheitliches, klares Licht.

II. Meister und Werke der ersten Hälfte des Quattrocento.
Innerhalb jener Gigantenreihe, deren genaueres stilistisches Studium durch ihren
Standort oft recht erschwert, ja theilweise fast unmöglich wird, ist eine kleine Anzahl dem
Auge des Beschauers auf das bequemste nahegerückt, und gerade diese sind für den
Gesamtcharakter der ganzen Gruppe höchst bezeichnend. Es sind die beiden Paare an
den Pfeilern zu Seiten der Querschifftribunen, deren Plattform jeder Besucher des Dom-
daches betritt: auf der Südseite der bartlose Mann im gegürteten Arbeitskittel, mit Stock
und Strick (Abb. 30), und ihm gegenüber der nackte Jüngling, welcher, auf einen langen
Stab gestützt, abwärts blickt; auf der Nordseite der emporschauende jüngere Mann im
knappen Wams (Abb. 31), und sein Partner, der sich mit der Linken auf den Baumstamm
stützt (Abb. 32). Neben ihm mögen noch sein Zwillingsbruder auf der Südseite, der Genosse
jenes nackten Jünglings an der anderen Pfeilerkante, sowie der Pilger mit Stab und Flasche
(Nordseitc) erwähnt werden. Alle diese Figuren sind genrehafte Gestalten des Alltagslebens.
Die Riesen und behaarten Unholde sind verschwunden. Selbst die Absicht, antike Heroen
wiederzugeben, kann man hier nicht mehr voraussetzen. Die einzige Ausnahme macht
die prächtige Männerfigur mit dem Löwen an der Osteckc des Strebepfeilers östlich neben
der Tribüne der Nordseite, die als Hercules1) zu deuten, vor den übrigen aber auch
schon durch den gröfseren Mafsstab ausgezeichnet ist. Alle anderen sind lediglich als
„Studien nach dem Leben“ anzusehen, und sie eröffnen auch in diesem Sinne die Reihe
der späteren Renaissance-Giganten, jener Reisigen, Knappen und Herolde, jener Ritter und
Nobili, die dort bald Wacht zu halten, bald auf ihrem Pfade nur flüchtig zu rasten
scheinen, unbekümmert um die Ungethüme über ihnen, unbehelligt von der Last, die
ihnen ursprünglich zu tragen oblag — eine lebensfrohe, abwechselungsreiche Gestaltcnwelt

1) Oder als Simson?
Meyer, Oberitali enische Frührenaissance.

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