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Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Dornes. I.

Junge des grofsen, als Wasserspeier fungirenden Drachens, dem es der Gigant offenbar
geraubt hat, und der deshalb wüthend auf ihn herabspringt. Auf der Südseite soll der
gewaltige Kerl, der einem zwischen seinen Beinen stehenden Löwen das Maul aufreifst,
wohl einen Hercules darstellen. Ruhig blickt er zu dem als Hund gebildeten Wasserspeier
empor, während sein Nachbar dem grofsen über ihm schwebenden Drachen auszubiegen
sucht. Am bizarrsten ist der dritte Gigant dieses Pfeilers gestaltet, welcher mit seinen
nackten Füfscn ein schlangcnartiges Ungethüm niedertritt. Bis tief über die Brust reicht
ihm sein gewaltiger Bart herab, und sein ungeschlachtes Riesenhaupt wirkt um so gro-
tesker, als unmittelbar neben ihm der Wasserspeier sein gewaltiges Riesenmaul aufsperrt. —
Das alles sind Bildungen, die innerhalb der dccorativen Phantasie der italienischen Trecento-
kunst eine besondere Beachtung verdienen. Einen Widerhall der altromanischen Kunst
glaubt man hier zu vernehmen, aber etwas Fremdes, Unitalienisches klingt mit hinein.
An die Riesen mittelalterlicher Ritterromane wird man erinnert. Und in der That war ja
die Volksphantasie in Oberitalien mit solchen Gestalten wohl vertraut, seit die franco-italische
Ritterdichtung den Gedankenkreis der französischen „chansons de geste“ — wie beispiels-
weise der ,,Entree de Spagne“ und der ,,Prise de Pampelunc“ — dort allgemein ver-
breitet hatte.1)
Allein nicht von gut geschulten ritterlichen Dichtern sind diese Riesen dem Volke
dort am häufigsten geschildert worden, sondern von — Bänkelsängern. Jeder feinere,
witzige Zug fehlt ihnen, und auf ihre äufscre Nachkommenschaft bei einem Pulci, Bojardo
und Ariost weist in ihnen wahrlich noch nichts hin! -— So bleibt auch in diesen Sculpturen
der Ausdruck rein handwerksmäfsig. Unproportionirt, in unglücklichen Stellungen, mit
verrenkten Glicdmafscn, dabei im Detail, besonders an den Flaarparticn, stark stilisirt,
wirken diese Figuren zwar drastisch genug, aber zugleich auch recht roh.
Ungemein fesselnd ist cs, von diesen Anfängen aus den Fortschritt der Leistungen
zu verfolgen. Derselbe zeigt sich bereits an den Pfeilern des mittleren Chorfensters. Dem
Gesamteindruck nach — zumal von unten gesehen — scheinen einige der dortigen „Gi-
ganten“ ihren Genossen an den Sacristeifenstcrn kaum wesentlich überlegen, weder die
beiden tief gebückt stehenden bärtigen Männer nebst dem ihnen benachbarten, gänzlich
behaarten „Waldmcnschcn“ („homo salvaticus“)2) mit Mantel und Federhut, noch vollends
die „Hornbläserin“ des Giorgio Solari (?)3) am nördlichen Pfeiler, ein langgewandetes Weib,
das sich in höchst unschöner Weise an die Hüfte fafst. Aus der Nähe, vom Dach aus
betrachtet, gewinnen sie jedoch, und schon bei ihnen macht sich besonders im Faltenwurf
ein gröfseres Formenverständnifs und eine bessere Durchführung vortheilhaft geltend.
Auch die mit geneigtem Haupt lässig stehende Actfigur eines jüngeren Mannes an der dem
Fenster zugewandten Kante des Nordpfeilers ist trotz der zu breit und flach gerathenen
Hüftpartic vortrefflich durchgearbeitet, und sein Kopf ist selbst nicht ohne psychologische
Feinheit. Möglicherweise ist dies der am 18. April 1404 erwähnte „gigante dcschalzi“ des
Giacopino da Tradate, und sein Gegenstück an der Südkante, ein Gewappneter im
wallenden Mantel, der, das baarhäuptige ausdrucksvolle Antlitz gesenkt, aufmerksam
herabblickt, der „gigante armato“ des Matteo Raverti. Analoge Vorzüge zeigen die
Figuren an den beiden Eckpfeilern des Chores, wo nördlich der auf seine Keule sich
stützende nackte emporblickende Mann wohl einen antiken Helden darstellen soll, und
sein nur halb vom Mantel umhüllter Nachbar — vielleicht der am 21. April 1405 genannte
Gigant „cum capello super caput“ des Nicolo da Venezia — durch seinen individuellen,
bärtigen Kopf fesselt. Auf der Südseite vollends bewähren die Actfigur eines Jünglings in
halber Rückenansicht und sein mit gerafftem Gewand kräftig ausschreitender Genosse bereits
ein treues Naturstudium und eine auf malerische Wirkung bedachte, sichere Modellirung.
Achnlichcs gilt bald in höherem, bald in geringerem Grade von den übereinander befind-

1) Es sei daran erinnert, dafs sich noch Filippo Maria Visconti französische Ritterromane vor-
lesen liefs. Vergl. Geiger, Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. Berlin 1882. I. S. 160.
2) Vergl. S. 50.
3) Vergl. Annali, App. I S. 268. Zahlung vom 18. April 1404.
 
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