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Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. II.

rein genrehaften Charakters, die erst in der Barockzeit wieder einem Riesengeschlecht
sich krümmender Atlanten weichen sollte! Es sind Figuren, wie sie in italienischen
Darstellungen der Heilsgeschichte und der Legenden seit dem Ende des Trecento der
Haupthandlung als mehr oder minder betheiligte Zuschauer beizuwohnen pflegen, Leute
ohne bestimmte Namen, oft auch thatsächlich ohne irgend welche Beziehung zur Haupt-
scene, aber selbst dann noch künstlerisch von hoher Bedeutung: denn sie breiten über
den Vorgang den frischen Hauch des wirklichen Lebens und erweitern die trockene Sach-
lichkeit der legendarischen Erzählung zu einem reichen künstlerischen Bild. Sind doch
in der italienischen Malerei


Abb. 30. Gigant am Mailänder Dom.

des Quattrocento gerade diese
Nebenfiguren die beredtesten
Verkünder der Renaissance,
nicht nur durch ihre Gegen-
wart an sich, sondern vor allem
durch die Natürlichkeit und
Frische ihrer Erscheinung in
allen ihren Theilen! Und schon
lange zuvor, gelegentlich selbst
schon in der romanischen Kunst,
erscheinen die Ahnen dieser
Genrefiguren in ähnlichem Sinne
als Vertreter einer gewisser-
mafsen realistischen Darstcl-
lungsweise, besonders da, wo
sie zu Trägern der eigentlichen
Handlung selbst werden. Man
denke etwa an die Genrescenen
in den Folgen der Monatsbilder
aber auch an die Fülle von
Werken, in denen solche Genre-
figürchen schon im Trecento
dem ihnen benachbarten Blatt-
werk und Ornamente rein deco-
rativ eingefügt sind.
Auch an dieser Giganten-
gruppe des Mailänder Domes
bewährte das genrehafte Thema
seine von Unnatur und Regel-
zwang befreiende Kraft, auch
diese Gestalten sind Schöpfun-
gen einer gesunden, realisti-
schen Kunst, sind Herolde der
Renaissance. Erstaunlich gut
sind vor allem die Köpfe, die

durchaus individuell und porträthaft wirken. Ein liebevolles Naturstudium spricht aus
diesen Werken, im Ausdruck vielfach allerdings noch befangen und selbst ungeschickt,
im Wollen aber und im Fleifs schon dem Geist der Renaissance würdig. Nur fehlt jegliche
Beziehung zur Antike. Von einem Nachklang an dieselbe, wie er durch die Uebcrliefcrung
der Pisaner Bildhauerschule nach Oberitalien getragen worden war, findet sich nichts mehr.
Diese Pisaner Tradition ist aus den hier mafsgebenden Factorcn der Stilbildung über-
haupt gänzlich ausgeschieden. Aber auch das besonders am Bildschmuck der Sacristei
vereinte germanische Element macht sich im einzelnen nicht mehr so stark geltend.
Keine Spur von jenem harten, knitterigen, an nordische Holzschnitzereien erinnernden
Faltenwurf eines Hans von Fcrnach, eines Matteo oder Giacomo da Campione! Ueberall
 
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