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Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. II.
an den östlichen Eckpfeilern der beiden Querschifftribunen des Domes auf der Nord- wie
auf der Südseite (Abb. 32); ferner den einen der Söhne Noahs mit dem nackten jugend-
lichen Giganten am Pfeiler neben dem Dach der Südtribüne; dann auch den „Adam“ des
Dogenpalastes mit den nackten Giganten des Domes! (Abb. 29.) Gewifs fehlt es hier nicht
an wesentlichen stilistischen Unterschieden. Die auffallend scharfe Dctaillirung des Nackten
an der Noahgruppe, wo die Adern fast bandartig scharf ausgearbeitet sind, findet sich bei
den Mailänder Giganten nicht,
Abb. 32. Gigant am Mailänder Dom.
diese zeigen vielmehr meist
weiche Formen. Auch sonst
spricht manches entschieden
gegen die Annahme, dafs etwa
thatsächlich ein und derselbe
Meister am Dogenpalast und
am Dom thätig gewesen sei.
Allein die Kunstrichtung ist
zweifellos die gleiche.
Und dies wird durch
die documentarisch beglaubigte
Künstlergeschichte erläutert.
Meister venezianischer Her-
kunft sind auch in der Mai-
länder Hütte vertreten. Des
Nicolo da Venezia, welcher
in Mailand 1403 an den Sculp-
turen des mittleren Chorfensters
betheiligt war und mehrere
Giganten lieferte, ist oben
schon gedacht worden. Ein
„Jacomolus de Venetiis“
ist mit seinem Bruder bereits
1399 an der Mailänder Kathe-
drale, sodann in Pavia am
Castell beschäftigt, wohl der
Vater des Paolo dalle Mascgne,
welcher sich am Monument
Cavalli in S. S. Giovanni e Paolo
in Venedig nennt. Weit gröfser
aber ist die Zahl der in der
Lagunenstadt nachweisbaren
Lombarden. Die Forschungen
Paolettis haben darüber neues
Licht gebreitet, Sie belegen
die schon längst bekannte That-
sache, dafs das reiche Arbeits-
feld, welches sich der deco-
rativen Plastik während der
ersten Hälfte des Quattrocento in Venedig bot, zahlreiche Bildhauer von den oberitalienischen
Seen nach dort führte. Diese Thätigkeit der Lombarden ist ein Hauptelement, welches die
eigenartige nationale Blüthe der venezianischen Plastik spätgothischcn Charakters im zweiten
Drittel des 15. Jahrhunderts vorbereitet. Am wichtigsten aber ist, dafs aus der Reihe dieser in
Venedig beschäftigten lombardischen Bildhauer am meisten gerade dieselbe Persönlichkeit
hervorragt, auf welche die Acten des Mailänder Domes unsere Aufmerksamkeit schon
wiederholt gelenkt haben, und die dort, wie noch zu zeigen ist, ein anderes, für den
soeben erörterten Stil jener Giganten besonders bezeichnendes, gröfseres Bildwerk geschaffen
Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. II.
an den östlichen Eckpfeilern der beiden Querschifftribunen des Domes auf der Nord- wie
auf der Südseite (Abb. 32); ferner den einen der Söhne Noahs mit dem nackten jugend-
lichen Giganten am Pfeiler neben dem Dach der Südtribüne; dann auch den „Adam“ des
Dogenpalastes mit den nackten Giganten des Domes! (Abb. 29.) Gewifs fehlt es hier nicht
an wesentlichen stilistischen Unterschieden. Die auffallend scharfe Dctaillirung des Nackten
an der Noahgruppe, wo die Adern fast bandartig scharf ausgearbeitet sind, findet sich bei
den Mailänder Giganten nicht,
Abb. 32. Gigant am Mailänder Dom.
diese zeigen vielmehr meist
weiche Formen. Auch sonst
spricht manches entschieden
gegen die Annahme, dafs etwa
thatsächlich ein und derselbe
Meister am Dogenpalast und
am Dom thätig gewesen sei.
Allein die Kunstrichtung ist
zweifellos die gleiche.
Und dies wird durch
die documentarisch beglaubigte
Künstlergeschichte erläutert.
Meister venezianischer Her-
kunft sind auch in der Mai-
länder Hütte vertreten. Des
Nicolo da Venezia, welcher
in Mailand 1403 an den Sculp-
turen des mittleren Chorfensters
betheiligt war und mehrere
Giganten lieferte, ist oben
schon gedacht worden. Ein
„Jacomolus de Venetiis“
ist mit seinem Bruder bereits
1399 an der Mailänder Kathe-
drale, sodann in Pavia am
Castell beschäftigt, wohl der
Vater des Paolo dalle Mascgne,
welcher sich am Monument
Cavalli in S. S. Giovanni e Paolo
in Venedig nennt. Weit gröfser
aber ist die Zahl der in der
Lagunenstadt nachweisbaren
Lombarden. Die Forschungen
Paolettis haben darüber neues
Licht gebreitet, Sie belegen
die schon längst bekannte That-
sache, dafs das reiche Arbeits-
feld, welches sich der deco-
rativen Plastik während der
ersten Hälfte des Quattrocento in Venedig bot, zahlreiche Bildhauer von den oberitalienischen
Seen nach dort führte. Diese Thätigkeit der Lombarden ist ein Hauptelement, welches die
eigenartige nationale Blüthe der venezianischen Plastik spätgothischcn Charakters im zweiten
Drittel des 15. Jahrhunderts vorbereitet. Am wichtigsten aber ist, dafs aus der Reihe dieser in
Venedig beschäftigten lombardischen Bildhauer am meisten gerade dieselbe Persönlichkeit
hervorragt, auf welche die Acten des Mailänder Domes unsere Aufmerksamkeit schon
wiederholt gelenkt haben, und die dort, wie noch zu zeigen ist, ein anderes, für den
soeben erörterten Stil jener Giganten besonders bezeichnendes, gröfseres Bildwerk geschaffen