ERNST HELLGARDT
Ich was so volle scheltens, daz min äten stanc (L. 29,2)
Walther von der Vogelweide als Polemiker
l
Die Skala der sprachlich-literarischen Ausdrucksmittel, mit de-
nen ... [Walther als] Meister der Aufführungskunst sein Publikum
beherrscht, ist ... breit. ... Delikateste Anspielung, aussparende An-
deutung, Rätsel und provozierendes Beim-Namen-Nennen; nüch-
ternes, definierendes Belehren und emotionales oder listiges Beein-
flussen mit allen Mitteln der Rhetorik, Schulstube und Gerichtssaal;
hohes ethisches Pathos und bekrittelnde Unterstellung; zärtliche
Anrede, feierliche Beschwörung, scharfe Kritik, unflätige Beschimp-
fung; Humor, Ironie, kabarettistische Selbst- und Fremdpersi-
flage ...1
Der vorliegende Beitrag möchte aus dem Feuerwerk all dieser Redekunstmittel,
über die Walther verfügt, diejenigen besonders herausleuchten lassen, welche nach
Ton, Thematik und Intention in das Feld der Polemik gehören, also etwa »provozie-
rendes Beim-Namen-Nennen, listiges Beeinflussen mit allen Mitteln der Rhetorik,
bekrittelnde Unterstellung, scharfe Kritik, unflätige Beschimpfung ...«. Rechten
Sinn kann ein solches Unternehmen aber erst dann haben, wenn es zugleich den
Sinn polemischen Sprechens bei Walther im Zusammenwirken von Tönen, Thema-
tiken und Intentionen seines ganzen CEuvres und all seiner Redeweisen, auch der
nicht-polemischen, ins Licht rückt. Bei diesem Gedanken gehe ich von einer Aller-
weltsweisheit aus, die im konkreten Zusammenhang bei Walther aber immer wie-
der bewußt zu machen ist; im konkreten Fall, das heißt in der Hitze des Redege-
fechts selbst und ebenso bei dessen Betrachtung aus überparteilicher oder
historischer Distanz. Die Allerweltsweisheit, die ich meine, besagt, daß alle Pole-
mik hier bei Walther wie auch sonst nicht um ihrer selbst willen geübt wird oder zu
üben ist, sondern daß sie immer das Ziel hat oder haben soll/haben will, problem-
lösend zu wirken - sei es, daß sie von parteilicher Seite aus stattfindet, sei es reflek-
tiert oder unreflektiert, bewußt oder unbewußt. Also, um die entsprechenden Stich-
worte gleich wieder aufzunehmen: ich gehe davon aus, daß Polemik in der
zwischenmenschlichen Rede überhaupt und so auch bei Walther letztlich stets das
Ziel hat, Raum zu schaffen für die emotional positiv besetzten Redemöglichkeiten
1 Hahn 1989, S. 88.
Ich was so volle scheltens, daz min äten stanc (L. 29,2)
Walther von der Vogelweide als Polemiker
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Die Skala der sprachlich-literarischen Ausdrucksmittel, mit de-
nen ... [Walther als] Meister der Aufführungskunst sein Publikum
beherrscht, ist ... breit. ... Delikateste Anspielung, aussparende An-
deutung, Rätsel und provozierendes Beim-Namen-Nennen; nüch-
ternes, definierendes Belehren und emotionales oder listiges Beein-
flussen mit allen Mitteln der Rhetorik, Schulstube und Gerichtssaal;
hohes ethisches Pathos und bekrittelnde Unterstellung; zärtliche
Anrede, feierliche Beschwörung, scharfe Kritik, unflätige Beschimp-
fung; Humor, Ironie, kabarettistische Selbst- und Fremdpersi-
flage ...1
Der vorliegende Beitrag möchte aus dem Feuerwerk all dieser Redekunstmittel,
über die Walther verfügt, diejenigen besonders herausleuchten lassen, welche nach
Ton, Thematik und Intention in das Feld der Polemik gehören, also etwa »provozie-
rendes Beim-Namen-Nennen, listiges Beeinflussen mit allen Mitteln der Rhetorik,
bekrittelnde Unterstellung, scharfe Kritik, unflätige Beschimpfung ...«. Rechten
Sinn kann ein solches Unternehmen aber erst dann haben, wenn es zugleich den
Sinn polemischen Sprechens bei Walther im Zusammenwirken von Tönen, Thema-
tiken und Intentionen seines ganzen CEuvres und all seiner Redeweisen, auch der
nicht-polemischen, ins Licht rückt. Bei diesem Gedanken gehe ich von einer Aller-
weltsweisheit aus, die im konkreten Zusammenhang bei Walther aber immer wie-
der bewußt zu machen ist; im konkreten Fall, das heißt in der Hitze des Redege-
fechts selbst und ebenso bei dessen Betrachtung aus überparteilicher oder
historischer Distanz. Die Allerweltsweisheit, die ich meine, besagt, daß alle Pole-
mik hier bei Walther wie auch sonst nicht um ihrer selbst willen geübt wird oder zu
üben ist, sondern daß sie immer das Ziel hat oder haben soll/haben will, problem-
lösend zu wirken - sei es, daß sie von parteilicher Seite aus stattfindet, sei es reflek-
tiert oder unreflektiert, bewußt oder unbewußt. Also, um die entsprechenden Stich-
worte gleich wieder aufzunehmen: ich gehe davon aus, daß Polemik in der
zwischenmenschlichen Rede überhaupt und so auch bei Walther letztlich stets das
Ziel hat, Raum zu schaffen für die emotional positiv besetzten Redemöglichkeiten
1 Hahn 1989, S. 88.