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Weinfurter, Stefan; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Päpstliche Herrschaft im Mittelalter: Funktionsweisen - Strategien - Darstellungsformen — Mittelalter-Forschungen, Band 38: Ostfildern, 2012

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Vollrath, Hanna,: Lauter Gerüchte? Canossa aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.34754#0199

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198

Hanna Vollrath

Ein wichtiger Grund dafür mag gewesen sein, dass die Aussöhnung von Ca-
nossa keinen Bestand hatte. Schon im Frühjahr 1077 äußerte Gregor VII. Zweifel
daran, dass Heinrich IV. die Versprechungen halten würde, die er in seinem Eid
beschworen hatte. Nach der Wahl Rudolfs von Rheinfelden bemühten sich dann
beide Könige, die Unterstützung des Papstes zu gewinnen. Beide Könige schickten
wiederholt Gesandte und Boten mit Briefen und mündlichen Mitteilungen nach
Rom. Dabei zögerten sie nicht, die Legitimität der je eigenen Position durch Verun-
glimpfung des Gegners zu unterstreichen. Man kann zweifelnd fragen, ob es dem
Papst überhaupt möglich war, sich aus der Ferne ein zuverlässiges Bild von der Si-
tuation im Reich zu machen.
Nach der zweiten Bannung Heinrichs IV. im März 1080 war Canossa endgül-
tig bedeutungslos geworden, und es gibt Hinweise darauf, dass beide Bannsprü-
che bald nicht mehr klar unterschieden wurden. Liest man Marianus Scottus unter
dem Aspekt, dass er irgendetwas von der Initiative des wieder gebannten Königs
zur Neubesetzung des päpstlichen Stuhles durch die Wahl eines Gegenpapstes ge-
hört hatte, dann ist der Satz des eingemauerten Iren nicht mehr ganz so abstrus,
wie er auf den ersten Blick erscheint.
Das heutige Bild von Canossa ist eine späte Schöpfung von Reformation und
patriotischem Empfinden137, wobei zur unmittelbaren Vorgeschichte von Bis-
marcks dann immer wieder zitiertem Ausruf im Reichstag am 14. Mai 1872 sicher
der überwältigende Erfolg von Wilhelm von Giesebrechts „Geschichte der deut-
schen Kaiserzeit" gehört. Deren dritter Band behandelt „Das Kaiserthum im
Kampfe mit dem Papstthum" und erschien 1869 in 3. Auflage. Giesebrecht hat dort
Lampert von Hersfeld zur Leitquelle seiner Darstellung über Canossa gemacht138
und damit dem gebildeten protestantischen Bürgertum seiner Zeit eine Deutung
geliefert, die prägend wurde. Bismarck konnte auf die Resonanz dieses Wissens
bauen, als er ankündigte, nicht nach Canossa gehen zu wollen. Man verstand ihn.
Er war nicht der erste, der die längst vergangene Geschichte aus dem Mittelalter
politiktauglich machte, aber er traf so sehr das politische Selbstwertgefühl des auf-
strebenden Preußen-Deutschland, das sein Satz alsbald zum geflügelten Wort
wurde.

dings noch einer genauen Analyse der regionalen Geschichtsdarstellungen und ihres jeweili-
gen Darstellungshorizontes.
137 Vgl. zur Rezeption von Canossa in der Neuzeit Zimmermann, Canossa (wie Anm. 2), S. 83-98;
S. 190-202; Tilmann Struve, Heinrich IV. in der historiographischen Tradition des 19. und
20. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch 119, 1999, S. 52-64; Matthias Pape, „Canossa" -
eine Obsession. Mythos oder Realität, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54, 2006, S.
550-572.
138 Wilhelm v. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, hier Bd. 3: Das Kaiserthum im
Kampfe mit dem Papsttum, zitiert nach der 5. Auflage, Leipzig 1890, S. 395-413.
 
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