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Weinfurter, Stefan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Päpstliche Herrschaft im Mittelalter: Funktionsweisen - Strategien - Darstellungsformen — Mittelalter-Forschungen, Band 38: Ostfildern, 2012

DOI Artikel:
Heckmann, Marie-Luise: Der Fall Formosus. Ungerechtfertigte Anklage gegen einen Toten, Leichenfrevel oder inszenierte Entheiligung des Sakralen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.34754#0238

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Der Fall Formosus

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ren, also die Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschichte, in den Blick. Es geht
hierbei um ein besseres Verständnis so genannter Symbolhandlungen. Diese führ-
ten rechtliche oder politische Entscheidungen den Beteiligten noch einmal sicht-
bar vor Augen oder dienten zumindest dazu, das Gesicht nach außen zu wahren55.
Zur Vertiefung und dieser Interpretationsansätze seien folgende vier Momente
hervorgehoben:
1) Ziel des Verfahrens war vor allem die Korrektur falsch verstandener kir-
chenrechtlicher Normen. Konkret formuliert: Es ging wohl mehr um die Kenntnis
der richtigen Voraussetzungen für die Klerikerwürde als um die Bestrafung ein-
zelner Übeltäter. Der Vorwurf des geistlichen Ehebruches gegen Formosus sollte
deshalb noch stärker als bisher unter vergleichendem Aspekt in die Lehre über das
Papst-, Patriarchen- und Bischofsamt eingeordnet werden. Die Fälle des Patriar-
chen Ignatios (847-858/859, 867-877), der gleich in drei Klöstern als Abt amtiert
hatte und 859 unter entwürdigenden Umständen seines Amtes enthoben worden
war56, des Patriarchen Photios, der sein Amt als Laie erlangt hatte und es dann nur
mit kaiserlicher bzw. päpstlicher Unterstützung halten konnte, sowie des Papstes
Formosus, der vor seiner Erhebnung zum Pontifex als Bischof von Porto tätig war,
stehen nämlich für einen Wandel der Kirchenverfassung in den Kirchen im Osten
bzw. im Westen.
2) Die Befähigung einer Person für ein geistliches Amt und die möglichen
Auswirkungen mangelnder Idoneität auf die Gültigkeit der von einem Unwürdi-
gen gespendeten Sakramente sind zwei Grundfragen, die sowohl das Photianische
Schisma des 9. wie die Gregorianische Reform des 11. Jahrhunderts bestimmen.
Der Fall Formosus bildet einen Beleg für eine erneut aufflammende Konkurrenz
zwischen dem Grundsatz des opus operandum, wie ihn erstmals die Donatisten
vertreten hatten, und dem Prinzip des opus operatum, wie es der Kirchenvater
Augustinus betont. Die Simoniedebatte erhält damit eine Art von Vorgeschichte
im 9. Jahrhundert.
3) Der Leichenfrevel wurde allem Anschein nach mit einem Umkehrritual
zur im Frühmittelalter üblichen Papsterhebung und zur zeitgenössischen Reli-
quienauffindung, -erhebung und -Überführung vollzogen. Die religions- und kul-
turgeschichtlichen Aspekte der Leichensynode bedürfen allerdings noch weiterer
Auslotung, ließen sich doch die Wirkmächtigkeit der Deutungsmuster „Gegen-
wart der Toten" und „Auslöschen der Erinnerung", „Thronsetzung" und „Entthro-
nung", „Bekleidung" und „Enthüllung", „Segen" und „Fluch", „Beisetzung" und
„Profanierung einer Grablege" sowie „Heiligung" und „Entweihung" hier nur an-
deuten.

55 Zur Funktion von Symbolhandlungen vgl. Johannes Laudage, Ritual und Recht auf päpstli-
chen Reformkonzilien (1049-1123), in: Annuarium Historiae Conciliorum 29,1997, S. 287-334;
Ders., Gewinner und Verlierer des Friedens von Venedig, in: Stauferreich im Wandel. Ord-
nungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas (Mittelalter-Forschungen 8),
hg. von Stefan Weinfurter, Stuttgart 2002, S. 107-130, bes. S. 125-130.
56 Migne, Patrologia Graeca 105, Sp. 521 (Niketas Paphlagon, Vita Ignatii, entstanden 9. /10. Jh.).
Ich danke Dr. Dirk Jäckel aus Bochum für den Hinweis auf diesen Textausschnitt.
 
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