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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.4250#0010
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— 6 -

Es ist natürlich ebenso möglich, dass das Nachlassen der späteren Holzschnitte auf den Verfall von Hiroshiges
Kräften infolge zunehmenden Alters zurückzuführen ist; nichtsdestoweniger weist die Tradition mehr auf die
Existenz eines zweiten und minderwerthigen Künstlers desselben Namens hin, so dass es, solange wir keine genauere
Kenntnis der Umstände haben, das beste sein wird, die zweite Theorie als richtig anzunehmen. Eine beachtens-
werte Parallele bietet in dieser Hinsicht das Werk Antonio Canalettos. Wer mit den Umrissen des Lebens dieses
Künstlers und mit einer hinlänglichen Anzahl seiner Arbeiten vertraut ist, wird um die grosse Verschiedenheit des
Könnens und der Ausführung wissen, welche in seinen Werken zu Tage tritt. In der That ist der Unterschied zwischen
den weitaus meisten Gemälden, welche Canaletto während seiner venezianischen Periode schuf, und seinen übrigen so
gross, dass moderne Forscher nicht ohne Grund behauptet haben, die Bilder, welche unter Canalettos Namen in
Nordeuropa entstanden seien, sowie mehrere der in Venedig gemalten rührten durchaus nicht von dem Künstler
selbst her, sondern von irgend einem Schüler oder Gehilfen, der im Stande gewesen sei, sich derartig der Malweise
seines Meisters anzuschliessen, dass er die Kunstkenner seiner Zeit zu täuschen vermochte.
Wir sind nun die Werke, welche mit Hiroshiges Namen unterzeichnet sind, vom Anfang bis zum Ende durch-
gegangen und müssen nun sehen, was eigentlich den Charakter und die Bedeutung seiner Holzschnitte ausmacht.
Ich habe schon die Verschiedenartigkeit seiner Leistungen, sowie seines Lebens erwähnt und glaube, dass die
Leichtigkeit, mit welcher er von einem Gegenstand zum anderen übergeht, vielleicht das bezeichnendste Merkmal
seiner Kunst ist. In der That steht er in dieser Beziehung unter den Künstlern seines eigenen Landes einzig und
allein dem grossen Hokusai nach. Diese Fülle der Mittel verleiht einer Sammlung von Holzschnitten Hiroshiges ihre
grosse Mannigfaltigkeit und Frische. Andererseits hat sie für einen, der, um die Wahrheit zu sagen, kein schöpferisches
Genie ersten Ranges war, auch einen gewissen Nachtheil. Hiroshige ist seinem Wesen nach ein Nachahmer der
Natur, manchmal in der That beinahe ein Topograph. Daher ist er bei seinem fortwährenden Suchen nach Neuem
gewöhnlich dann zufrieden, wenn er all das ausgedrückt hat, was er in seinem Gegenstande findet, ohne sich über
ihn Gedanken zu machen, wie Hokusai gethan hätte, so dass stets nur das im Vorwurf selbst Liegende wieder-
gegeben erscheint und kein Atom mehr. Daher ist seine Composition natürlich und entspricht die von ihm dargestellte
Gegend mehr einer bestimmten, in der Wirklichkeit vorhandenen, als dies bei Hokusai der Fall ist. Andererseits ist
Hiroshiges Zeichnung gerade aus diesem Grunde weniger wissenschaftlich vollkommen, seine Darstellung weniger
eindringlich als die seines grossen Zeitgenossen. Vergleichen wir für einen Augenblick, wie sich jeder der beiden
Künstler gegenüber dem Winter verhält, einem Stoffe, in dessen Wiedergabe sich alle beide besonders auszeichnen.
Der graue Himmel Hiroshiges ist bitterlich kalt, aber sein Schnee erweckt nur den unerfreulichen Eindruck von
Thauwetter oder zumeist den fröhlichen der Weihnachtszeit. (Vgl. Abb. auf Seite 3.) Hokusai verwirklicht die eherne
Gewalt des Frostes, die schreckliche Trostlosigkeit von Landstrichen, die unter ungeheuren Schneewehen begraben
liegen. Oft führt er zur Steigerung den Menschen ein, welcher der unermesslichen fühllosen Natur ohnmächtig gegen-
übersteht, wie zum Beispiel auf dem Holzschnitt aus den »Hundert Ansichten des Fuji«, wo ein Pilgerzug mit
Fahnen und Trompeten unterhalb des grossen Vulkans dahinzieht, dessen schweigender Kegel hoch über den
Wallfahrern emporragt.
Ebenso verhält es sich mit Hiroshiges Farbe. Hokusai betrachtete die Farbe stets als Mittel, um eine gewisse
decorative Wirkung zu erzielen. Die Natur gab ihm gewöhnlich die Anleitung dazu; aber seine malerische
Behandlung der Farben der Natur war ebenso willkürlich wie die ihrer Formen. Seine Hauptabsicht war immer,
eine vornehme Verbindung hübscher Formen und sorgfältig abgetönter Farbenflächen hervorzubringen. Hiroshige
aber zielte auf eine Nachahmung der Natur ab, insoferne es mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln möglich
war. Gerade die Beschränkungen des Farbenholzschnittes sind für ihn von wirklichem Nutzen, denn sie bewahren
ihn davor, mehr als fünf oder sechs Farben anzuwenden. So entgeht er der unterschiedslosen unharmonischen
Vielfarbigkeit, wie wir sie bei einigen unserer modernen Naturalisten finden. Wenn sein Gegenstand gut gewählt ist,
erzielt er auch Wirkungen, welche in der That grossartig zu nennen sind, ganz besonders durch seine geschickte
Anwendung von Grün, das er in der Mitte seines Lebens mit ausserordentlicher Kenntnis und Kühnheit behandelte.
In seinen späteren Compositionen sind die Farbenefsecte greller, ein Fehler, der ohne Zweifel wenigstens in gewisser
Hinsicht auf Rechnung der Anilinpigmente zu setzen ist, welche damals in Japan neu eingeführt wurden. Dies ist
zwar eine Erklärung, aber kaum eine Entschuldigung. Hiroshige hatte in Wirklichkeit weder den ausserordentlich fein
entwickelten Farbensinn, der die Blätter Haronobus und Utamaros so einzig in der Kunst der ganzen Welt macht, noch
das Verständnis und das Gefühl für Stil, wodurch jedes Werk, das von Hokusais Hand stammt, so wertvoll wird.
Hiroshige war in der That eher ein derber, aber geschickter Realist, als ein grosser schöpferischer Künstler, und
in dieser Beziehung hat er mehr mit den modernen Landschaftern Europas gemein, als seine Vorgänger. Vielleicht
erklärt dies gerade das grosse Interesse, das wir für seine Arbeiten haben.
Nichtsdestoweniger sind Hiroshiges Holzschnitte, selbst wenn wir alle diese Fehler seiner Kunst in Betracht
ziehen, zu gut, um vernachlässigt oder geringgeschätzt zu werden. Die Anzahl guter Landschaftsbilder auf der Welt
ist so klein, dass wir es uns nicht gestatten können, mit ihnen hyperkritisch zu verfahren. So ungeheuer auch der
 
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