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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.4250#0011
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Hiroshige.

»Nacht am Ycdo-Fluss«. Nach dem Farbenholzschnitt.

Fortschritt der europäischen Landschaftsmalerei während der letzten hundert Jahre gewesen ist, so werden wir doch weit
gehen müssen, bis wir einen Landschafter treffen, der zugleich so kraftvoll, so natürlich, so originell und so mannigfach
ist wie Hiroshige. Er hat die Scenerie seines Landes gleichsam urkundlich festgehalten und überliefert, und zwar in
allen Stimmungen, im Sommer und im Winter, bei Sonnenschein und bei Regen; und wenn seine Darstellung heftiger
Stürme und brausenden Wassers weniger naturwahr und überwältigend als jene Hokusais ist, so hat er doch zum
mindesten hinlänglich bewiesen, dass er, wenn ihm solche Effecte in den Weg kamen, der Sache gewachsen war.
Seine eigentliche Stärke liegt in der Wahrheit und Einfachheit, mit welcher er die Natur in der Ruhe darstellt,
die weiten Räume voll unbewegter Luft, im Zwielicht, wie sie über grossen Ebenen und blauen Flusswindungen,
über tief im Schnee vergrabenen Ortschaften liegen, und über dem wilden Umriss einförmiger zackiger Vulkane. Er
ist ebenso im Herzen des Gebirges daheim, wo man nur ein paar Wanderer unter einem überhangenden Felsen
dahinziehen sieht, wie mitten im geschäftigen Yedo voll Menschengewühls, das sich fröhlich durch die Strassen
drängt oder am Gestade spazieren geht, während weit in der Ferne der grosse Kegel des Fuji aufragt und als
Gegensatz zu dem lärmenden Getriebe des Stadtlebens ein wohlthuendes Gefühl von Ferne und Ruhe erweckt.
Vielleicht ist die Leidenschaft für die Ferne und Ruhe der Natur das wesentlichste Charakteristiken dieses glänzenden
Experimentators. Wenn man zu sehen wünscht, wie die Japaner wohnen und reisen, so wird man das bei Hiroshige
finden, aber es wird intimer und erschöpfender bei Hokusai zu sehen sein. Wenn man feinfühlige Vertheilung der
Linien und auserlesene Farbenharmonien sucht, so gibt es andere japanische Künstler, die hierin Vollendeteres leisten
als Hiroshige. Nur bei ihm jedoch kann man einen frischen und lebendigen Eindruck von der Färbung und dem
Aussehen Japans im allgemeinen bekommen, von der Scenerie seines Landes und von seinem Städteleben, von seinen
Flüssen, seinen Ebenen, seinem Gebirge und seiner See, alles getaucht in jene ruhigen Mengen flüssiger Luft, welche
seit der Zeit, da die Brüder Van Eyck den prachtvollen blauen Himmel malten, der sich auf dem Genter Altarbild
über der himmlischen Stadt ausspannt, das Entzücken aller Künstler des Westens gebildet haben.
Hiroshiges Einfluss auf die europäischen Maler trat nach so vielen Seiten hin zu Tage, dass es schwer ist, ihm
mit ein paar Worten gerecht zu werden. Nichtsdestoweniger gibt es einen Punkt, auf welchen die Aufmerksamkeit
besonders hingelenkt werden sollte. Hiroshige war der erste Künstler, welcher zeigte, dass eine Stadt oder eine
Vorstadt ebenso schöne und darstellenswerthe Vorwürfe für ein Gemälde bietet, wie die pittoreske Landschaft.
Durchblättern wir zum Beispiel seine köstliche Folge der »Ansichten von Yedo« und bemerken wir, wie mächtig
 
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