58
den Abgang Rietsch' als Ordinarius für Musikwissenschaft
nach Prag 1898 dieses beide so überaus sympathischen,
liebenswürdigen Gelehrtenerscheinungen in gleicherweise
ehrende harmonische Verhältnis infolge der geographischen
Entfernung seinen äußerlichen Abschluß fand. Die Inan-
spruchnahme der Kräfte und der Zeit Wallascheks durch
sein mit dem Jahre 1900 einsetzendes Wirken als Lehrer
der Ästhetik am Wiener Konservatorium sowie in den
darauffolgenden Jahren durch seine Tätigkeit als Musik-
referent der «Zeit' mochte wohl der Grund sein, daß nach
1899 seine wissenschaftliche Produktion — abgesehen
von der bereits erwähnten Überarbeitung und deutschen
Ausgabe der »Primitive music« — etwas ins Stocken kam.
Erst nach einer fünfjährigen Pause setzte 1904 wieder eine
neue Arbeitsperiode, eine Nachblute jener glücklichen
ersten Londoner Epoche ein, insofern 1904 — wohl als
Ergebnis objektiver Klärung und wissenschaftlich-metho-
dischen Durcharbeitens seiner als Kritiker gesammelten
Erfahrungen — die Abhandlung erschien: »Das ästhetische
Urteil und die Tageskritik« (in: Jahrbuch Peters, 1904), an
die sich 1905 wieder eine psycholegische Arbeit schloß:
»Psychologie und Pathologie der Vorstellung«. Die folgen-
den Jahre waren den Vorarbeiten für sein letztes größeres
Werk gewidmet, die Geschichte der Wiener Hofoper
(Band IV der »Theater Wiens«, 1909), in dem Wallaschek
ein sehr reiches biographisches und statistisches Quellen-
material verarbeitet und gezeigt hat, daß er auch als reiner
Musikhistoriker jedem, auch einem solchen, der sein Leben
lang nichts anderes als musikhistorische Kleinarbeit be-
trieben hat, auf dessen eigenstem Gebiete zum mindesten
ebenbürtig war. Wenn ich dieses nach seinem äußeren
Umfang zu den größten Arbeiten, wenn nicht überhaupt
als die größte Arbeit Wallascheks zählende Werk trotz
der imponierenden stattlichen Arbeitsleistung, die in ihm
vorliegt, und trotz aller seiner eben erwähnten Vorzüge
dennoch — wenigstens nach meinem persönlichen, eigenen
Geschmacke — nicht als sein Hauptwerk ansehen möchte,
so liegt der Grund hiervon darin, daß es dem Dahingeschie-
denen nicht in seiner eigentlichen Domäne, nicht auf dem
von ihm eroberten Grund und Boden des von ihm er-
schlossenen Neulandes seiner Forschungen zeigt und mir
so — wenigstens für mein subjektives Empfinden — nicht
so oder wenigstens nicht in dem Grade die wohlbekannten
individuellen Züge der Physiognomie Wallascheks zu tragen
scheint, wie sie uns aus seiner »Primitive music« oder
seinen musikpsychologischen und -ästhetischen Arbeiten
entgegenblickt. Aber ich gebe gerne zu, daß diese meine
Empfindung vielleicht nur ein ganz willkürlicher und sub-
jektiver Eindruck meinerseits ist. Seine letzten Arbeiten
waren — meines Wissens — sein Buch »Psychologie und
Technik der Rede« (Leipzig Joh. Ambros. Barth) und
sein auf dem Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunst-
wissenschaft in Berlin (7. bis 9. Oktober 1913) gehaltener
und in dem Berichte des Kongresses (Stuttgart, Ferdinand
Enke, 1914) veröffentlichter Vortrag: »Subjektives Kunst-
gefühl und objektives Kunsturteil«.
Wie vielseitig und reich das Wissen und Können des
Verewigten war und mit welch weitem Blicke er die ver-
schiedensten verwandten Gebiete in den Bereich und Dienst
seiner Forschungen heranzog, zeigt am besten ein Blick
auf die Themen seiner Kollegien, die er von 1896 bis zu
seinem Tode an der Wiener Universität gelesen hat. Rein
musikgeschichtliche, -psychologische, -ästhetische, ver-
gleichend musikwissenschaftliche und -ethnographische
Themen lösten sich mit solchen systematischer Kunst-
forschung in reichstem, belebendstem und anregendstem
Wechsel ab: neben Kollegien wie »Goethes Kunstphilo-
sophie« oder »NietzschesMusikästhetik« findet man solche
musikfolkloristischen, -ethnographischen, psychophysio-
logischen Inhalts usw. Auch die Tatsache, daß Wallaschek
Mitglied, zuletzt Vizepräsident der Gesellschaft für experi-
mentelle Phonetik war, sich an deren Sitzungen und Refe-
raten eifrig beteiligte und selbst auch Vorträge daselbst
hielt, ist recht bezeichnend für ihn: sein weiter, scharf-
sinniger Blick ließ ihn sehr richtig die hohe Bedeutung
erkennen, die die Phonetik und Stimmphysiologie für die
Erklärung der musikwissenschaftlichen und tonpsycholo-
gischen Phänomene — und damit für die vergleichende
musikwissenschaftliche Forschung — besitzt, und er zog
daraus sofort die Konsequenz, sich auch in dieses Gebiet
einzuarbeiten, um das sich zu kümmern wohl selten einem
Musikhistoriker — wenn er nicht die Universalität eines
Riemann besitzt! — eingefallen sein dürfte. Im Zusammen-
hange mit dieser seiner Betätigung auch auf dem Gebiete
der phonetischen und sprachphysiologischen Forschung
steht auch sein Lehramt für Redekunst, das er als Leiter
des Instituts für Redeübungen an der Wiener Universität
bekleidete, nachdem er vor mehreren Jahren das Extra-
ordinariat erlangt hatte. Leider war es ihm durch ein
grausames Schicksal nicht vergönnt, sich des so spät und
schwer Errungenen lange zu erfreuen; denn schon seit
zwei Jahren fraß an ihm ein schweres, tückisches Leiden,
das schon um die Jahreswende 1915/16 eine Operation
notwendig machte und im Vereine mit einem sekundär
hinzugetretenen Herzleiden diesem wertvollen, unersetz-
lichen Leben ein Ende bereitete.
Als Mensch war Wallaschek die verkörperte Bon-
hommie. Sein Wesen war liebenswürdig und heiter, ent-
gegenkommend und wohlwollend, schlicht und bescheiden.
Lauter wie Kristall war sein Charakter. Jedem Cliquen-
wesen abhold, bildete er sich selbständig und unbestechlich
sein Urteil, für das er, so fern auch seiner milden, zur Be-
schaulichkeitgeneigten Natur jedes Aus-Sich-Hervorgehen,
jede Polemik lag, mit ruhiger Festigkeit mannhaft einzu-
treten wußte. Die Kunst, für sich selbst die Lärmtrommel
zu rühren, verstand er ebensowenig wie die, sich selbst
praktische Vorteile zu sichern. So stand er inmitten der
herrschenden Verhältnisse ziemlich einsam, und daß er die
Tageskritik nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder auf-
gegeben hat, ist nur begreiflich. Was Fernerstehenden an
ihm vielleicht als Indifferenz, als Hang zur Bequemlichkeit
erschien, war nur der Ausfluß seiner bescheidenen Zurück-
den Abgang Rietsch' als Ordinarius für Musikwissenschaft
nach Prag 1898 dieses beide so überaus sympathischen,
liebenswürdigen Gelehrtenerscheinungen in gleicherweise
ehrende harmonische Verhältnis infolge der geographischen
Entfernung seinen äußerlichen Abschluß fand. Die Inan-
spruchnahme der Kräfte und der Zeit Wallascheks durch
sein mit dem Jahre 1900 einsetzendes Wirken als Lehrer
der Ästhetik am Wiener Konservatorium sowie in den
darauffolgenden Jahren durch seine Tätigkeit als Musik-
referent der «Zeit' mochte wohl der Grund sein, daß nach
1899 seine wissenschaftliche Produktion — abgesehen
von der bereits erwähnten Überarbeitung und deutschen
Ausgabe der »Primitive music« — etwas ins Stocken kam.
Erst nach einer fünfjährigen Pause setzte 1904 wieder eine
neue Arbeitsperiode, eine Nachblute jener glücklichen
ersten Londoner Epoche ein, insofern 1904 — wohl als
Ergebnis objektiver Klärung und wissenschaftlich-metho-
dischen Durcharbeitens seiner als Kritiker gesammelten
Erfahrungen — die Abhandlung erschien: »Das ästhetische
Urteil und die Tageskritik« (in: Jahrbuch Peters, 1904), an
die sich 1905 wieder eine psycholegische Arbeit schloß:
»Psychologie und Pathologie der Vorstellung«. Die folgen-
den Jahre waren den Vorarbeiten für sein letztes größeres
Werk gewidmet, die Geschichte der Wiener Hofoper
(Band IV der »Theater Wiens«, 1909), in dem Wallaschek
ein sehr reiches biographisches und statistisches Quellen-
material verarbeitet und gezeigt hat, daß er auch als reiner
Musikhistoriker jedem, auch einem solchen, der sein Leben
lang nichts anderes als musikhistorische Kleinarbeit be-
trieben hat, auf dessen eigenstem Gebiete zum mindesten
ebenbürtig war. Wenn ich dieses nach seinem äußeren
Umfang zu den größten Arbeiten, wenn nicht überhaupt
als die größte Arbeit Wallascheks zählende Werk trotz
der imponierenden stattlichen Arbeitsleistung, die in ihm
vorliegt, und trotz aller seiner eben erwähnten Vorzüge
dennoch — wenigstens nach meinem persönlichen, eigenen
Geschmacke — nicht als sein Hauptwerk ansehen möchte,
so liegt der Grund hiervon darin, daß es dem Dahingeschie-
denen nicht in seiner eigentlichen Domäne, nicht auf dem
von ihm eroberten Grund und Boden des von ihm er-
schlossenen Neulandes seiner Forschungen zeigt und mir
so — wenigstens für mein subjektives Empfinden — nicht
so oder wenigstens nicht in dem Grade die wohlbekannten
individuellen Züge der Physiognomie Wallascheks zu tragen
scheint, wie sie uns aus seiner »Primitive music« oder
seinen musikpsychologischen und -ästhetischen Arbeiten
entgegenblickt. Aber ich gebe gerne zu, daß diese meine
Empfindung vielleicht nur ein ganz willkürlicher und sub-
jektiver Eindruck meinerseits ist. Seine letzten Arbeiten
waren — meines Wissens — sein Buch »Psychologie und
Technik der Rede« (Leipzig Joh. Ambros. Barth) und
sein auf dem Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunst-
wissenschaft in Berlin (7. bis 9. Oktober 1913) gehaltener
und in dem Berichte des Kongresses (Stuttgart, Ferdinand
Enke, 1914) veröffentlichter Vortrag: »Subjektives Kunst-
gefühl und objektives Kunsturteil«.
Wie vielseitig und reich das Wissen und Können des
Verewigten war und mit welch weitem Blicke er die ver-
schiedensten verwandten Gebiete in den Bereich und Dienst
seiner Forschungen heranzog, zeigt am besten ein Blick
auf die Themen seiner Kollegien, die er von 1896 bis zu
seinem Tode an der Wiener Universität gelesen hat. Rein
musikgeschichtliche, -psychologische, -ästhetische, ver-
gleichend musikwissenschaftliche und -ethnographische
Themen lösten sich mit solchen systematischer Kunst-
forschung in reichstem, belebendstem und anregendstem
Wechsel ab: neben Kollegien wie »Goethes Kunstphilo-
sophie« oder »NietzschesMusikästhetik« findet man solche
musikfolkloristischen, -ethnographischen, psychophysio-
logischen Inhalts usw. Auch die Tatsache, daß Wallaschek
Mitglied, zuletzt Vizepräsident der Gesellschaft für experi-
mentelle Phonetik war, sich an deren Sitzungen und Refe-
raten eifrig beteiligte und selbst auch Vorträge daselbst
hielt, ist recht bezeichnend für ihn: sein weiter, scharf-
sinniger Blick ließ ihn sehr richtig die hohe Bedeutung
erkennen, die die Phonetik und Stimmphysiologie für die
Erklärung der musikwissenschaftlichen und tonpsycholo-
gischen Phänomene — und damit für die vergleichende
musikwissenschaftliche Forschung — besitzt, und er zog
daraus sofort die Konsequenz, sich auch in dieses Gebiet
einzuarbeiten, um das sich zu kümmern wohl selten einem
Musikhistoriker — wenn er nicht die Universalität eines
Riemann besitzt! — eingefallen sein dürfte. Im Zusammen-
hange mit dieser seiner Betätigung auch auf dem Gebiete
der phonetischen und sprachphysiologischen Forschung
steht auch sein Lehramt für Redekunst, das er als Leiter
des Instituts für Redeübungen an der Wiener Universität
bekleidete, nachdem er vor mehreren Jahren das Extra-
ordinariat erlangt hatte. Leider war es ihm durch ein
grausames Schicksal nicht vergönnt, sich des so spät und
schwer Errungenen lange zu erfreuen; denn schon seit
zwei Jahren fraß an ihm ein schweres, tückisches Leiden,
das schon um die Jahreswende 1915/16 eine Operation
notwendig machte und im Vereine mit einem sekundär
hinzugetretenen Herzleiden diesem wertvollen, unersetz-
lichen Leben ein Ende bereitete.
Als Mensch war Wallaschek die verkörperte Bon-
hommie. Sein Wesen war liebenswürdig und heiter, ent-
gegenkommend und wohlwollend, schlicht und bescheiden.
Lauter wie Kristall war sein Charakter. Jedem Cliquen-
wesen abhold, bildete er sich selbständig und unbestechlich
sein Urteil, für das er, so fern auch seiner milden, zur Be-
schaulichkeitgeneigten Natur jedes Aus-Sich-Hervorgehen,
jede Polemik lag, mit ruhiger Festigkeit mannhaft einzu-
treten wußte. Die Kunst, für sich selbst die Lärmtrommel
zu rühren, verstand er ebensowenig wie die, sich selbst
praktische Vorteile zu sichern. So stand er inmitten der
herrschenden Verhältnisse ziemlich einsam, und daß er die
Tageskritik nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder auf-
gegeben hat, ist nur begreiflich. Was Fernerstehenden an
ihm vielleicht als Indifferenz, als Hang zur Bequemlichkeit
erschien, war nur der Ausfluß seiner bescheidenen Zurück-