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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.3682#0048
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Vincent van Gogh, La Crau

vcrirrung nannte, so war er in diesen Jahren doch nicht minder ein
Exponent der geistigen Entwicklung denn nachher als Künstler. Und
manches von dem, was in seiner Kunst großen Ausdruck fand, klingt in
den ersten dreißig Lebensjahren, wenn auch in ganz anderer Form, an.
Sie sind von den spateren nicht zu trennen.

Van GoghsJugendjahre, wie wir sie imSpiegel der Briefe erblicken,
stehen im Zeichen des höchsten Altruismus, der absoluten Selbstauf-
opferung und seelischen Vertiefung. Aus seinen Worten spricht eine reine
Liebe zu niedrigen und leidenden Wesen; ein Subjektivismus, der sich
andachtig allen Erscheinungen öffnet und auch aus dem engsten Winkel
heraus den Zusammenhang mit dem Universum gewinnt, wie der Natur-
ausschnitt der holländischen Maler des XVII. Jahrhunderts, unter deren
tiefem Eindruck er von Anfang an steht, den Zusammenhang mit dem
unendlichen Raum; eine hingebungsvolle Aufmerksamkeit, allen objektiven
und egoistischen Interesses bar. Die restlose Vergeistigung und Verinner-
lichung, die das Körperliche fast negiert, sollte für immer einen Grundzug
seines Wesens bilden. Wir finden in seiner Gestalt manche Züge wieder,
mit denen Riegl Empfinden und Geistesleben Hollands im Zeitalter
Rembrandts charakterisiert hat. Reiner Subjektivismus des Glaubens-
erlebens war es, was ihn dazu bestimmte, als Laienprediger und Apostel
nach England und zu den armen Grubenarbeitern der Borinage zu gehen.
In die großen Subjektivisten der Literatur versenkte er sich., in Shakespeare
vor allem. Dann spricht er wieder von Dickens' »blessed twilight« und
denkt dabei an das Helldunkel einer Zeichnung Rembrandts, des großen
Erlebnisses, das er in immer neue, eindringliche Worte zu fassen sucht.
Er erlebte ihn mit der ganzen Tiefe seines Empfindens und ruft aus: >Das

Studium Shakespeares ist so schon wie Rembrandt«. Neben Reinbrandt
waren es Hals und Ruisäoel, die tiefen Eindruck auf ihn machten. In
Paris offenbarten sich ihm die großen Meister von Barbizon und in einer
Ausstellung von Handzeichnungen der Genius Millets, der zum Angelpunkt
der ersten Periode seiner Kunst wurde; in London Constable. Schon früh
überrascht seine feine und eindringliche Art zu beobachten. Kleine Natur-
schilderungen aus England sind duftig wie Turnersclie Aquarelle.

Die ersten Jahre seiner künstlerischen Tätigkeit verbrachte van
Gogh in Holland, dessen malerische Entwicklung damals ein spates
Nachleben der Resultate des XVII. Jahrhunderts bedeutete. Mesdag, Maris
und Israels waren seine Umgebung, mit Mauve stand er in persönlichem
Verkehr. Stärker als durch dieses Epigonentum, von dem er sich gleich
zu Beginn wesentlich unterschied, wurde er durch die großen Meister des
XVII. Jahrhunderts beeinflußt. Er bemühte sich um typisch holländische
Probleme, bewegte sich aber dabei in ganz anderer Richtung als seine
Zeitgenossen. Das läßt sich an charakteristischen Briefstellen verfolgen.
Er strebt nach Zusammenfassung der Massen im Fernbild, nach einheit-
licher Tonigkeit, nach Ausdrucksmitteln für Raum und Atmosphäre Die
Farbe sucht er als Mittel der räumlichen Darstellung zu meistern. Dabei
ist aber schon sein Ausgangspunkt ein mehr abstrakter: die Handzeich-
nung. Wir stoßen da auf die Worte: »Das Zeichnen wird je länger je
mehr eine Leidenschaft bei mir«. Diese Leidenschaft sollte ihn nie mehr
verlassen. Seine Handzeichnungen gehören zum Grüßten der neuen Kunst.
Wie sehr seine frühen Zeichnungen auch motivisch Israels und dem frühen
Liebermann gleichen, formal sind sie ganz anders empfunden. In großen,
harten, ausdrucksvollen Linien hingeworfen, in eckiger Abstraktion



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