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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.3682#0057
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MITTEILUNGEN

GESELLSCHAFT FÜR VERVIELFÄLTIGENDE KUNST.

BEILAGE DER „GRAPHISCHEN KÜNSTE".

1918.

WIEN.

Nr. 4.

Studien und Forschungen.

Zwei Figureninitialen in einer Handschrift zu Kremsmünster und
das Holzschnittalphabet von 1464.

Im ausgehenden Mittelalter entstanden die ersten eigens zu Vorlagezwecken angefertigten Zieralphabete aus
Figureninitialen. Sie führten in den Model- und Musterbüchern der Miniaturmaler lange ein verborgenes Dasein, bis
Aufschwung und Verbreitung der graphischen Künste ihnen größere Vervielfältigungsmöglichkeit bot und ihren
Vorlagenwert wesentlich erhöhte.

Drei zur Gänze erhaltene verschiedene Typen 'gotischer Figurenalphabete bezeugen die Vielfältigkeit des
Bedürfnisses nach derartigen Vorbildern.

Als frühestes Beispiel habe ich vor einigen Jahren ein figuriertes Minuskelalphabet nachgewiesen, das in einer
vollständigen Kopie in einem Skizzenbuch der Biblioteca civica zu Bergamo erhalten ist. Das Urbild dieses Alphabets,
das dem XIV. Jahrhundert entstammt, ist von deutschen und italienischen Künstlern und Miniatoren nachgeahmt worden
und hat dem Meister E. S. die entscheidende Anregung zu seinem gestochenen Figurenalphabet gegeben.1

Ein anderes figuriertes Musteralphabet, das Kaemmerer in einer aufschlußreichen kleinen Arbeit besprochen hat2
— es besteht aus Majuskelinitialen in getuschten Federzeichnungen —, befindet sich im Kupferstichkabinett zu Berlin. Die
Buchstabenkörper sind aus kuttentragenden Menschen, phantastischen Fabeltieren und stilisierten Blattranken gebildet.
Die Entstehung im ersten Jahrzehnt des XV. Jahrhunderts wird von Kaemmerer und Jaro Springer übereinstimmend
vertreten.

Endlich bekundet das vielbesprochene Holzschnittalphabet von 1464 im British Museum,3 für dessen Herkunft aus
dem niederländisch-französischen Kunstkreise gewichtige Gründe geltend gemacht wurden, die dauernde Vorliebe der
Spätgotik für die groteske und phantastische Verbindung menschlicher und tierischer, in die Buchstabenform gezwängter
Figuren.4 Den künstlerischen Erfolg, die weite Verbreitung dieses Majuskelalphabets bestätigen zahlreiche auf
verschiedene Kulturzentren verteilte Nachahmungen: eine Holzschnittkopie in Basel,5 eine Kupferstichkopie des Meisters
mit den Bandrollen,G sowie die nachgewiesene Benutzung einzelner Buchstaben in späteren Handschriften, so in einem

1 Betty Kurth, Ein gotisches Figurenalphabet aus dem Ende des XIV. Jahrhunderts und der Meister E. S. Mitteilungen der Gesellschaft für
vervielfältigende Kunst, Beiblatt der Graphischen Künste, 1912, Nr. 3, S. 45. — Dieselbe, Ein Freskenzyklus im Adlerturm zu Trient. Kunstgeschicht-
liches Jahrbuch der k. k. Zentralkommission, Band V, 1911. — Dieselbe, Fragmente aus einem gotischen Schriftmusterbuch in der Universitäts-
bibliothek zu Würzburg. Kunstgeschichtliches Jahrbuch der k. k. Zentralkommission. Band IX, 1915. S. 17:!.

2 Ludwig Kaemmerer, Ein spätgotisches Figurenalphabet un Berliner Kupferstichkabinett, Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen 1S97,
S. 216. — Jaro Springer, Gotische Alphabete, Publikation der chalkographischen Gesellschaft 1897.

3 Ein zweites Exemplar dieses Werkes kam 1910 bei der Versteigerung der Bibliothek des Mr. Thomas Gray aus Glasgow zutage und
befindet sich gegenwärtig im Besitze des Mr. Dyson Porrins in Darenham bei Malorn. Vergl. Campbell Dodgson, Vier unpublizierte Buchstaben des
Holzschnittalphabets von 1464. Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, Beiblatt der Graphischen Künste, 1911, S. 6.

4 Vergl. darüber Campbell Dodgson, Grotesque Alphabet of 1464. Reproduced in Facsimile from the Original Woodcuts in the British
Museum, London, 1899. — Idem, Two woodcut alphabets of the flfteenth Century, Burlington Magazine, 1910, p. 362. — Idem, Mitteilungen der
Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, 1911, S. 6. — Idem, Catalogue of Early German and Flemisb Woodcuts, LS. 124. —Jaro Springer, Gotische
Alphabete, S. 3. — Schreiber, Manuel de i'amateur de la gravure sur bois et sur metal au XVe siede, Berlin 1891 — 1910, Band II, Nr. 1998 und 1999.
— Max Lehrs, Über gotische Alphabete, Repertorium für Kunstwissenschaft, Band XXII, 1899. S. 371.

5 Jaro Springer, Gotische Alphabete.

' Publikation der chalkographischen Gesellschaft 1890, Tafel 12. — Max Lehrs, Der Meister mit den Bandrollen, Dresden 1886.

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