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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.6491#0005
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MITTEILUNGEN

DER

GESELLSCHAFT FÜR VERVIELFÄLTIGENDE KUNST.

BEILAGE DER i-GRAPHISCHEN KÜNSTE...

1928. WIEN. Nr. 1.

Studien und Forschungen.

Bemerkungen zu einem Skizzenblatt Leonardos.

Es handelt sich um das prachtvolle Blatt 2258 der Louvresammlung1, dessen beide Seiten Leonardo mit Entwürfen
bedeckt hat (Abb. 1 und 4). »Bedeckt« ist vielleicht nicht das passende Wort; mit so viel Überlegung und Geschmack sind
die Einzelfiguren, die Gruppen, die Szenen über den Raum verteilt. Sie gehören der Zeit an. in der Leonardo die Kompo-
sition der Epiphaniastafel vorbereitete, also etwa der Spanne von 1479 bis 1481/2. Ich sage absichtlich 1479; denn
stilistisch reiht sich das Blatt der berühmten Uffizienzeichnung an. die das Datum von 1478 (Dezember 1478) trägt, und
überdies fixiert Leonardo seine Einfälle für ein Werk durchaus nicht erst, wenn er den Auftrag dafür bekommen hat. Auch
darin ist er keineswegs mehr der Handwerksmann des Mittelalters, sondern der Ahnherr des heutigen freien Künstlers.
Die Ideen des Meisters sind auf diesem wie auf anderen Blättern vorerst mit Silberstift aufgerissen, sodann mit Feder in
Bister — nicht etwa nachgefahren, sondern in vollem Wortsinne übergangen, oft ganz neugeschaffen, so daß die Skizze
stets den Eindruck leichter, kühner Improvisation erweckt. Im Original des Louvre kann man die Silberstiftspuren gut
verfolgen und sich an den Änderungen genießend erfreuen. Noch sind die Köpfe der Figuren, soweit sie nicht im Profil
dastehen, von altertümlich quadratischer Bildung und die Eckigkeit der Kinnbackenpartie erscheint auffallend stark betont.
Die Umrißlinie (und mehr gibt es kaum) ist von großer Sicherheit und Ausdrucksfähigkeit und verrät schon die volle
Beherrschung der menschlichen Form. Alles Überflüssige bleibt weg, in Vorerfüllung einer späteren Regel des Meisters:
el bozare delle storie sia pronto elmembrifichare non sia tropo finita // sta chontento solamente asiti (ai siti, der Lage)
desse membra i quäle poi abellagio piacendoti // le potrai finire (Ms. Ashburnham 2038, folio 8 verso)2. Am liebsten zeichnet
er die Leiber nackt, um einzelne drapiert er dann noch malerisch wirkendes Gewand, wie besonders schön bei dem
Jüngling auf der Vorderseite unseres Blattes rechts unten, der mit ehrfürchtiger Gebärde leise, als wollte er den Zauber
des Wunders, das er erblickt, nicht brechen, herantritt, was sehr fein durch den zögernden rechten Fuß, den der vorgesetzte
linke überschneidet, und durch die gehobene Rechte neben der halb abwehrenden Linken zur Erscheinung gebracht wird:
ein Muster vincianischer Darstellung gemischter Gefühle. Dagegen das fast mitleidsvolle Staunen der einfacheren Natur,
die sein Nachbar verkörpert. In die Ecke links, gerade unter dem in tiefer Demut herankriechenden alten König (der im
Gleichnis des Königs von Lorenzo Ghiberti auf der Tür des Baptisteriums geschaffen ist), hat Leonardo mit Silberstift
eine Gestalt hingehaucht, die in der Reproduktion leider kaum sichtbar gemacht werden konnte. Einen der Magierfürsten
sollte sie wohl darstellen — auf dem Kompositionsversuch der Galichonzeichnung finden wir links eine Abwandlung
der schönen Figur. Sie trägt reiches Gewand, mit langen, weiten Ärmeln, in der Mitte abgegürtet, ganz wie der Gefolgs-
mann mit den Reiterstiefeln oben links, der über die Schulter weg uns anschaut und dessen Hände zu sagen scheinen:
»da könnt ihr es selber sehen«, eine Geste, die er von Botticelli, leicht variiert, übernommen hat. Im Gegensatz zu diesem
ruhigen, ernsten, stehenden Knappen scheint ein Sturm religiöser Empfindung den jungen König in die Knie zu fällen,
während er die Hände in Anbetung falten will: eine herrliche Konzeption, die ihre endgültige Form leider nicht gefunden
hat. Ein Versuch, dem Profil mit Bleigriffel nachzufahren, mißlang und wurde aufgegeben . . . Ohne bei der oberen
Reihe der Figuren zu verweilen, obwohl der Adorant in der Mitte und die wundervolle Jünglingsgestalt rechts dazu

1 Das Blatt (0-278 :0-208) befand sich einstens im Besitze von Sir Thomas Lawrence, ging dann in die Sammlung des Königs der Niederlande über,
bei deren Versteigerung es 1850 der I.ouvre erwarb. Unsere Reproduktion wurde für diesen Aufsatz vom Pariser Hause Giraudon unter Aufsicht des
liebenswürdigen Vorstandes des Cabinet des Dessins des Louvre M. E. Communaux hergestellt, wofür ich diesem sehr dankar bin.

2 El bozare delle storie sia pronto, il membrificare non sia troppo finito; sta contento solamente ai siti d'esse membra, i quäle poi a bell' agio,
piacendoti. le potrai finire.

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