Abb. 2. Leonardo, Entwurf zu einer phantastischen Leier.
mit Silberstift auf unser Blatt gezeichnet, und
zwar höchst wahrscheinlich bevor er seine
malerischen Einfälle darauf festhielt; denn die
Skizze steht gerade unter dem Paar auf der
Bank, und der mit der Feder gezeichnete Fuß
des Jünglings geht über das Instrument hin-
weg, ein mit Silberstift skizzierter ruht darauf.
Auch andere Betrachter des Blattes müssen
diese Skizze wahrgenommen haben; sie
wußten sie aber wahrscheinlich nicht zu
deuten. Mir kam zu Hilfe, daß ich eine bessere,
sehr phantastisch, aber völlig ausgeführte
Zeichnung kannte, die Leonardo zwischen
1485 und 1489 gemacht und die Franz
M. Feldhaus in seinem Buch »Leonardo als
Techniker und Erfinder« (Eugen Diederichs,
Jena, 1913, Taf. 9, S. 101) wiedergab (Abb. 2).
Nach dem wissenschaftlichen Gewährsmann
des Herrn Feldhaus mag in der Tat Leonardo einen alten Pferdeschädel als Modell benützt und die Stellung der Zähne
etwas verändert haben, um sich ihrer zum Spannen der Saiten zu bedienen. Die zum Halten des Instrumentes ein-
gesetzten Steinbockhörner hat auch das frühe Notat des Louvreblattes. Um diese Urskizze in Silberstift, die in der
Reproduktion nicht scharf genug herauskam, deutlicher zu machen, wird hier eine unter der Lupe gemachte, wissen-
schaftlich genaue Nachzeichnung beigegeben (Abb. 3). Die spätere Zeichnung steht im Codex Ashburnham 2037 (folio C),
der einstmals einen Appendix des Ms. B gebildet, und ist in der Ravaisson-Mollienschen Faksimile-Ausgabe des Manu-
skriptes H beigebunden. Ob auf folio D des gleichen Heftes Teile des Pferdeschädels als Einzelstudien für die Lyra zu
gelten haben oder als Waffe, wie Ravaisson es gemeint, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist es uns wahrscheinlich
geworden, daß jenes »bizarre« Instrument wirklich existiert hat. Daß wir es auf einem Blatt wahrnehmen, das mit
Skizzen für das Dreikönigsbild bedeckt ist, bekanntlich die letzte Arbeit, die Leonardo vor seinem Fortgang nach Mailand
unternahm, läßt es als möglich zu, daß in Vasaris Bericht ein Fünkchen Wahres enthalten ist. Lorenzo de' Medici mag
wirklich eine Gesandtschaft nach Mailand geschickt haben, um Lodovico il Moro zur Übernahme der Regentschaft, nach
der Kaltstellung Bonas von Savoyen, zu beglückwünschen und Leonardo als Überbringer des Instrumentes aus Silber
mitgegangen sein. Der berühmte Brief, den der Künstler von Florenz aus an den Moro richtete, um seine Fähigkeiten
ihm zu Diensten zu erbieten (und sich ihm für die Arbeit am Reiterdenkmal, die schon bestellt gewesen sein muß) ins
Gedächtnis zu rufen, beweist klar, daß Leonardo schon vor seiner Übersiedlung von 1482 in Mailand gewesen sein
muß, mit dessen Lokalitäten er sich als vertraut erweist.1
Mit dem Erwähnten ist aber die Fülle interessanter Dinge nicht erschöpft, die unser Louvreblatt uns bietet. Unter den
Hygrometer (modo dj pesare laria // eddj sapere quando sa // arrompere il tempo) in der Mitte der oberen Reihe hat
Leonardo eine köstliche Naturstudie hingezeichnet. Auf niedrigem Schemel sitzt eine junge Frau und zwischen ihren
Füßen versinkt, wie in einer Hutsche, faul und satt das Kind. Der Kopf ist uns zugekehrt und ruht auf seiner linken
Schulter, während sein Anriehen sich am Knie der Mutter festhält. Das linke Bein hat es hochgehoben und stützt den
Oberschenkel dabei auf das andere Knie der Mutter, die sich mit diesem seinen Fuß etwas zu schaffen macht. Das rechte
Bein hängt über dem der Mutter, und die
rechte Hand liegt ausgestreckt da. Die junge
Frau ist in frontaler Ansicht dargestellt, den
gesenkten Kopf aber hat sie nach links ge-
dreht. Ganz ungesucht ineinander geschmiegt,
bildet das eine kompakte Gruppe von stumpfer
Pyramidenform. Vorzüglich die Gewand-
behandlung — wie der gebauschte Ärmel
verwendet ist, wie die straffen Faltenzüge des
1 Frau Dr. Tietze-Conrat verweist mich auf
Füippino Lippis Allegorie der Musik (Kaiser-Friedrichs-
Museum in Berlin), in welcher der Maler, vielleicht
durch Leonardos phantastische Schöpfung angeregt,
eine sechssaitige Lyra zwischen dem Geweih eines
Hirsches angebracht hat.
Abb. 3. Vergrößerte schematische Nachzeichnung des lautenähnlichen Instruments auf
Leonardos Skizzenblatt (Abb. 41.
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mit Silberstift auf unser Blatt gezeichnet, und
zwar höchst wahrscheinlich bevor er seine
malerischen Einfälle darauf festhielt; denn die
Skizze steht gerade unter dem Paar auf der
Bank, und der mit der Feder gezeichnete Fuß
des Jünglings geht über das Instrument hin-
weg, ein mit Silberstift skizzierter ruht darauf.
Auch andere Betrachter des Blattes müssen
diese Skizze wahrgenommen haben; sie
wußten sie aber wahrscheinlich nicht zu
deuten. Mir kam zu Hilfe, daß ich eine bessere,
sehr phantastisch, aber völlig ausgeführte
Zeichnung kannte, die Leonardo zwischen
1485 und 1489 gemacht und die Franz
M. Feldhaus in seinem Buch »Leonardo als
Techniker und Erfinder« (Eugen Diederichs,
Jena, 1913, Taf. 9, S. 101) wiedergab (Abb. 2).
Nach dem wissenschaftlichen Gewährsmann
des Herrn Feldhaus mag in der Tat Leonardo einen alten Pferdeschädel als Modell benützt und die Stellung der Zähne
etwas verändert haben, um sich ihrer zum Spannen der Saiten zu bedienen. Die zum Halten des Instrumentes ein-
gesetzten Steinbockhörner hat auch das frühe Notat des Louvreblattes. Um diese Urskizze in Silberstift, die in der
Reproduktion nicht scharf genug herauskam, deutlicher zu machen, wird hier eine unter der Lupe gemachte, wissen-
schaftlich genaue Nachzeichnung beigegeben (Abb. 3). Die spätere Zeichnung steht im Codex Ashburnham 2037 (folio C),
der einstmals einen Appendix des Ms. B gebildet, und ist in der Ravaisson-Mollienschen Faksimile-Ausgabe des Manu-
skriptes H beigebunden. Ob auf folio D des gleichen Heftes Teile des Pferdeschädels als Einzelstudien für die Lyra zu
gelten haben oder als Waffe, wie Ravaisson es gemeint, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist es uns wahrscheinlich
geworden, daß jenes »bizarre« Instrument wirklich existiert hat. Daß wir es auf einem Blatt wahrnehmen, das mit
Skizzen für das Dreikönigsbild bedeckt ist, bekanntlich die letzte Arbeit, die Leonardo vor seinem Fortgang nach Mailand
unternahm, läßt es als möglich zu, daß in Vasaris Bericht ein Fünkchen Wahres enthalten ist. Lorenzo de' Medici mag
wirklich eine Gesandtschaft nach Mailand geschickt haben, um Lodovico il Moro zur Übernahme der Regentschaft, nach
der Kaltstellung Bonas von Savoyen, zu beglückwünschen und Leonardo als Überbringer des Instrumentes aus Silber
mitgegangen sein. Der berühmte Brief, den der Künstler von Florenz aus an den Moro richtete, um seine Fähigkeiten
ihm zu Diensten zu erbieten (und sich ihm für die Arbeit am Reiterdenkmal, die schon bestellt gewesen sein muß) ins
Gedächtnis zu rufen, beweist klar, daß Leonardo schon vor seiner Übersiedlung von 1482 in Mailand gewesen sein
muß, mit dessen Lokalitäten er sich als vertraut erweist.1
Mit dem Erwähnten ist aber die Fülle interessanter Dinge nicht erschöpft, die unser Louvreblatt uns bietet. Unter den
Hygrometer (modo dj pesare laria // eddj sapere quando sa // arrompere il tempo) in der Mitte der oberen Reihe hat
Leonardo eine köstliche Naturstudie hingezeichnet. Auf niedrigem Schemel sitzt eine junge Frau und zwischen ihren
Füßen versinkt, wie in einer Hutsche, faul und satt das Kind. Der Kopf ist uns zugekehrt und ruht auf seiner linken
Schulter, während sein Anriehen sich am Knie der Mutter festhält. Das linke Bein hat es hochgehoben und stützt den
Oberschenkel dabei auf das andere Knie der Mutter, die sich mit diesem seinen Fuß etwas zu schaffen macht. Das rechte
Bein hängt über dem der Mutter, und die
rechte Hand liegt ausgestreckt da. Die junge
Frau ist in frontaler Ansicht dargestellt, den
gesenkten Kopf aber hat sie nach links ge-
dreht. Ganz ungesucht ineinander geschmiegt,
bildet das eine kompakte Gruppe von stumpfer
Pyramidenform. Vorzüglich die Gewand-
behandlung — wie der gebauschte Ärmel
verwendet ist, wie die straffen Faltenzüge des
1 Frau Dr. Tietze-Conrat verweist mich auf
Füippino Lippis Allegorie der Musik (Kaiser-Friedrichs-
Museum in Berlin), in welcher der Maler, vielleicht
durch Leonardos phantastische Schöpfung angeregt,
eine sechssaitige Lyra zwischen dem Geweih eines
Hirsches angebracht hat.
Abb. 3. Vergrößerte schematische Nachzeichnung des lautenähnlichen Instruments auf
Leonardos Skizzenblatt (Abb. 41.
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