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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.6491#0020
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XIX. Jahrhundert erweitert; er schreibt eine Geschichte der abendländischen
Kunst, die mehr als früher - und vielleicht auch mehr als später Anspruch
erheben darf, die Weltkunst zu sein, in jenem Zeitraum, der sich metho-
disch und gefühlsmäßig von den vorangegangenen Epochen als Periode
einer spezifischen Moderne scheidet. Schettlers Beruf zu einer solchen
Arbeit steht außer Frage; der Herausgeber der führenden Zeitschrift
»Kunst und Künstler« — die im Herbst letzten Jahres die Feier ihres
einviertelhundertjährigen Bestandes beging—und der Verfasser so vieler
vortrefflicher Bücher, in denen Teilfragen des nunmehr zusammenfassend
behandelten Gebietes anregend erörtert wurden, besitzt nicht nur einen
ungewöhnlich gediegenen Überblick über die Fülle der Produktion, er
besitzt auch Geist und Geschmack, diese Erzeugnisse persönlich zu sehen
und zu werten, und das Bedürfnis, sie in einen geordneten Zusammen-
hang zu stellen. Er ist bei der Überlegung, wie die sich ihm bietende
Masse des Stoffes bewältigt werden könne, auf die Antinomie gestoßen,
die im Wesen der Kunst begründet ist, daß sie in ihrer Wirksamkeit eine
soziale, in ihrer Ursächlichkeit eine individuelle Angelegenheit ist, daß
sie also anstrebt, eine Tatsache im Dasein der Allgemeinheit zu sein, und
doch gleichzeitig in der jeder Nachrechnung spottenden Unmeßbarkeit
und Einzigartigkeit der individuellen Begabungen wurzelt. In dem aus
dieser Gegensätzlichkeit sich ergebenden Konflikt zwischen Stilgeschichte
und Künstlergeschichte hat sicli Scheff ler entschieden zu letzterer bekannt,
ihm ist die Kunstgeschichte des XIX. Jahrhunderts durchaus in die
Äußerungen der Talente eingeschlossen. Je höher sich diese über den
zeitgegebenen Durchschnitt erheben, je genialer sie sich von aller Bedingt-
heit zu lösen scheinen, desto umfassender drücken sie in der Tat Zeit
und Volk und die an beide geknüpfte Stilphase aus, weil sie ja eine
Synthese der bewußten und der unbewußten Bedürfnisse sind und die
aus einer überlegenen Individualität geschöpfte Befriedigung dieser
Bedürfnisse mit zwingender Ubergewalt der Folgezeit aufnötigen. Ist die
Wirkung der Prüfstein aller kausalen Kräfte, so ist einleuchtend, daß
nichts die höchste Qualität als entwicklungsgeschichtliche Tatsache an
Wichtigkeit übertreffen könnte. Die großen Meister sind es, die den Gestalts-
wandel des künstlerischen Gefühlsausdrucks verkörpern und tragen.

Eine umfassende Darstellung, wie Schettler sie unternommen hat,
läßt sich aber nicht auf jene höchste Auslese der künstlerischen Begabun-
gen beschränken, die mehr oder weniger — denn auch hier gibt es nicht
eine absolute Wertbestimmung — dem Streit der Meinungen entrückt
sind; er hat die Haupterscheinungen mit einer Fülle von Nebenfiguren
umgeben, den Spitzen die breiten Höhenzüge untergelagert, aus denen
sie hervorragen, und so die heroisierende Geschichte mit einem statistischen
Prinzip durchbrochen. Denn dadurch werden Abstufungen und verglei-
chende Bewertungen unvermeidlich, deren letzte Instanz in der subjektiven
Auffassung des Autors gelegen ist; die Auswahl der dargestellten Künst-
ler und die Abstufung ihres Ranges werden zu einer Frage persönlichen
Geschmacks. Als historische Schilderung löst sich Schettlers Buch
dadurch in eine locker und mehr äußerlich verbundene Fülle von Einzel-
essays auf, die jedesmal die Erkenntnis des Künstlers bereichern, in vielen
Fällen — etwa bei den Charakteristiken Menzels oder Manets - - durch
die Tiefe und Schärfe ihrer Intuition und die plastische Fülle ihrer Formu-
lierung einen klassischen Rang erreichen. So vertrauensvoll der Leser
nun auch einem so zuverlässigen Führer sich anvertrauen kann, darf er
doch nicht über die Bedingtheit von dessen Gcschmacksurteilen im un-
klaren bleiben.

Tatsächlich fußt Schettlers Darstellung bei aller Weite seines
Blicks auf einer einseitigen Auffassung, die man als eine naturalistisch-
malerische bezeichnen könnte; seine Urteile sind räumlich und zeitlich
auf einen ganz bestimmten Punkt bezogen. Schettler urteilt als Sohn einer
Generation, die noch durchaus im starken Nachhall des Impressionismus
aufgewachsen war, und aus jenem Berlinertum heraus, das in der male-
rischen Bewältigung des Naturausschnittes die eigentliche künstlerische
Aufgabe gesehen hat. Wenn man die vier Stufen allgemeiner kultureller
Entwicklung überlegt, die er in der Einleitung als sein Grundschema dar-
legt, und die Einzelbeurteilungen der Künstler zur Kontrolle heranzieht.

so wird man einer Klimax gewahr, in deren aufsteigendem Ast als die
wesentlichen Werte nur jene gelten, die den malerischen Naturalismus
der siebziger Jahre vorbereiteten, und in deren absteigendem Ast Aner-
kennung und Lob sich danach richten, wie viel von den Errungenschaften
jener Blüteperiode die Nachkommen mitführen. Die ganze Struktur des
Buches ist durch diesen Grundgedanken bestimmt: seine Belastung mit
einer verhältnismäßig großen Anzahl von Kleinmeistern der favorisierten
Richtung und die bisweilen bis zur Nichtnennung gesteigerte Ver-
werfung bedeutender Künstler abweichenden Bekenntnisses; die bisweilen
überraschende Aufteilung der Persönlichkeiten auf die verschiedenen
Kapitel. Die ruhige Konsequenz und unerschütterliche Selbstverständlich-
keit des Urteils bestätigt Schettlers Berechtigung, sich — in mehr als
einem Sinne — als den Vasari der Künstler des XIX. Jahrhunderts zu
fühlen; wie dieser schöpft er seine Sicherheit aus der Zugehörigkeit zu
der Schichte, die sich in Dingen des Geschmacks als die führende fühlt.
Es ist jene -Majorität der Minorität*, die sich in Deutschland mit der Jahr-
hundertausstellung von 1906 als ästhetischer Machtfaktor konstituiert hat.

Schettlers Buch ist 1927 erschienen. So vieler Jahre bedurfte es
noch, um einein damals noch streitbaren Bekenntnis zu dieser inneren
Ausgeglichenheit zu verhelfen, die hier einen kanonischen Niederschlag
gefunden hat. Es ist ein abschließendes Buch; nicht das Urteil über das
XIX. Jahrhundert abschließend — denn es liegt im Wesen der historischen
Entwicklung, auch das Verhältnis zur Vergangenheit fortschreitend
Revisionen zu unterziehen —, aber den Schlußstrich unter die Kunst-
auffassung einer Schichte ziehend, deren geistige Herrschaft — nach
Schettlers Urteil selbst — zu Ende geht. Die Kunst der bürgerlichen Kultur
im Spiegel der gleichen Gesinnung; es entspricht der Logik der Entwick-
lung, daß der Höhepunkt der literarisch-historischen Betrachtung dem
Höhepunkt der künstlerischen Kurve um eine volle Generation nachfolgt.
Schefflers Buch ist so ausgezeichnet und abgeklärt, weil der Lebens-
prozeß, den er schildert, abgetan und vorbei ist; wir stehen — 1927 —
außerhalb seiner Grenzen, im Chaos, wie Scheffler meint und wie wir
einbekennen. Im ewig schöpferischen Chaos, dessen Geburten erst die
Zukunft sehen und ein späterer Historiker schildern wird, dem sich dann
auch die Kunst des XIX. Jahrhunderts völlig anders darstellen wird, als
sie in Schefflers Standardwerk erscheint. Dieser wird das Verdienst
behalten, aus starkem historischen Instinkt heraus den Augenblick der
vollen Reife einer Kunst erkannt zu haben, den flüchtigen fruchtbaren
Moment zu ihrer Schilderung; erst seit er es so glänzend formuliert hat,
wissen wir sicherer, wie sehr all dies vorüber ist. Hans Ticlzc.

Honore de Balzac, Ergötzliche Geschichten
Verdeutscht durch Paul Wiegler. Mit 8 Holzschnitten von
Anny Schroeder. München 1928, R. Piper & Co.

Unserer Zeit, in der Balzacs großes Lebenswerk der »Comecüe
humaine« immer neue Bewunderer in deutschen Landen rindet — haben
doch vor kurzem drei große deutsehe Verleger Übertragungen des gigan-
tischen »Epos« Balzacs unternommen —, Hegt natürlich die Denkungsart
und Weltanschauung der Zeitgenossen des Künstlers, wie er sie uns in
seiner >Menschlichen Komödie« zeigt, viel näher als die groteske Phan-
tastik und derbe Freiheit dieser »Contes drolatiques«, mit der er einen
Ausflug in die Zeit und das Gebiet seines pantagruelischen Vorläufers
Rabelais unternimmt. — Diese neue deutsche Ausgabe, die im wohl-
bekannten Piperschen Verlag erscheint, ist mit acht Originalholzsehnitten
illustriert. Die Holzschnitte von Anny Schroeder, Wien, treffen aus-
gezeichnet den Stil des Ganzen und sind fast alle von ausgezeichneter
Qualität. Trotz der starken Einfühlungsgabe derKünstlerin stellen sie doch
ganz selbständige Kunstwerke dar, die eine wichtige Ergänzung und
Belebung des Buches bilden.

Das Buch ist in Ganzleinen gebunden, mit einem Einband, der
ebenfalls von A. Schroeder entworfen ist, versehen, von schmuckem
Äußeren, wie sich dies bei allen Werken des Piper-Verlages wohl von selbst
versteht. F. N.

NB. Die Rubrik - Anzeigen neuer Erscheinungen " wi

rd im nächsten Heft nachgetragen werden.

I). R.
 
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