ziehen, das offenbar erst bei seiner Verwendung als
Klebeblatt durch einen gewaltsamen Eingriff den Maß-
verhältnissen der Unterlage angepaßt worden ist. Wie
nämlich der bekanntlich von der Schilderung des
apokalyptischen Weibes (Off.Joh.c.XII) herzuleitende
Darstellungstypus der »Madonna im Strahlenkränze«
schon vom ikonographischen Standpunkte aus statt
eines Kniestückes die Wiedergabe der Ganzfigur auf
der Mondsichel erwarten läßt, so macht sich auch
die gegenwärtig durch die willkürliche Behinderung
der Höhenentfaltung jählings um ihr rhythmisches
Gleichgewicht betrogene Komposition aus rein ästhe-
tischen Gründen die inhaltlich angemeldete Forderung
gänzlich zu eigen; nicht genug damit, erschiene sie
selbst nach deren Befriedigung kaum eher vollends
zurechtgerückt, bevor man zu Füßen der Muttergottes
— etwa gemäß dem Beispiel jener Inkunabelform-
schnitte Sehr. 1098 —1101, denen freilich das Thema
der mit der Himmelskönigin zusammengeordneten
Evangelistensymbole von Anbeginn eine symme-
trische Entsprechung der Eckfüllungen aufzwingt —
zwei weitere Engel als Schleppträger oder musizie-
rende Begleiter hinzudächte. Der erfolgreiche Ver-
such, den also erschlossenen Bildaufbau des näheren
empirisch festzulegen, ist darüber hinaus zugleich als
die bedeutsamste Vorschubleistung der Formalana-
lyse zu werten, da er in einem bisher unveröffent-
lichten Einblattdruck des Londoner Print Room
(Sehr. 1109 = Dodgson A 58,1 Abb. 6) ein Werk
zutage fördert, das sich mit dem Strahower Madon-
nenschnitt nicht nur durch gegenständliche und kom-
positionelle, sondern auch durch stilistische Ver-
wandtschaft aufs engste verknüpft zeigt. Inwieweit
die beiden Marienverkörperungen für diese Behaup-
tung einstehen, bezeugen die hier wie dort mit harten
Brechungen und scharfhakigen Faltenendungen ar-
beitende Gewandbehandlung, der treppenartige Abfall des Mantels, der sich im Spiegelsinn wiederholt, bezeugen nicht
zuletzt die vollwangigen, von welligen Haarflechten umrahmten Gesichter, denen die stärkste Familienähnlichkeit auf die
hohe Stirn geschrieben ist und durch die Beschaffenheit von Augen, Nase und Mund, die kräftig betonte Kinnlinie und
den zarten Halsansatz Zug um Zug bestätigt wird; wer zum Überfluß nachprüfen will, bis zu welchem Grade sich die
zeichnerischen Übereinstimmungen auf die Nebenfiguren erstrecken, braucht nur eine so unscheinbare und daher doppelt
verräterische Einzelheit wie die seltsam verkrüppelten Hände der orgelspielenden Engel als Teil für das Ganze zu nehmen.
Je zwangloser sich aber endlich auch die technischen Merkmale — die Verdickung des Außenkonturs und die ver-
schiedentlich in den Anfängen steckenbleibende Schraffierung — mit ihrem zwiefachen Vorkommen dieser Beobachtungs-
kette einfügen, desto weniger kann verschwiegen werden, daß die Londoner Madonna dank der Art, wie sie mit griffigeren
Fingern das lebendiger bewegte Jesuskind zur Schau trägt, dank der reicheren Gliederung des Gewandes und nebenher
vielleicht sogar dank der geschmeidigeren Bildung der Zackenkrone einer fortschrittlicheren Auffassung zuneigt als die
nach Strahow verschlagene Gefährtin, die hinwiederum die ruhige Gehaltenheit ihres Wesens und das ausdrucksfähigere
Antlitz vor ungerechter Unterschätzung behütet; sind nun die rein qualitativen Schwankungen mit der dem Gesamtbefund
einzig angemessenen Schlußfolgerung ohne weiteres vereinbar, mag es sich dennoch empfehlen, die übrigen Abweichungen
für zeitlich bedingt und das Londoner Blatt für eine etwas spätere Arbeit des Strahower Meisters zu erklären.
Der nach jeder Richtung hin scharf ausgeprägte Charakter der beiden Mariengestalten begünstigt ihre entwicklungs-
geschichtliche Einreihung, der es im Zweifelsfalle vergönnt ist, die Aussage der Formensprache durch jene der Schnitt-
technik zu ergänzen. So wird man beispielsweise nicht zögern, einen St. Wolfgang des Berliner Kupferstichkabinetts
i V. Catalogue of early German and Flemish Woodcuts in the British .Museum I, London 1003. Für die freundlichst erteilte Erlaubnis zur
Erstpublikation und die Beistellung der Photographie fühlt sich der Verfasser Herrn Direktor Campbell Dodgson zu besonderem Danke verpflichtet.
.Madonna im Strahlenkranz. Inkunabelholzschnitt Sehr. 1109. London,
British Museum (verkleinert).
— 51 —
Klebeblatt durch einen gewaltsamen Eingriff den Maß-
verhältnissen der Unterlage angepaßt worden ist. Wie
nämlich der bekanntlich von der Schilderung des
apokalyptischen Weibes (Off.Joh.c.XII) herzuleitende
Darstellungstypus der »Madonna im Strahlenkränze«
schon vom ikonographischen Standpunkte aus statt
eines Kniestückes die Wiedergabe der Ganzfigur auf
der Mondsichel erwarten läßt, so macht sich auch
die gegenwärtig durch die willkürliche Behinderung
der Höhenentfaltung jählings um ihr rhythmisches
Gleichgewicht betrogene Komposition aus rein ästhe-
tischen Gründen die inhaltlich angemeldete Forderung
gänzlich zu eigen; nicht genug damit, erschiene sie
selbst nach deren Befriedigung kaum eher vollends
zurechtgerückt, bevor man zu Füßen der Muttergottes
— etwa gemäß dem Beispiel jener Inkunabelform-
schnitte Sehr. 1098 —1101, denen freilich das Thema
der mit der Himmelskönigin zusammengeordneten
Evangelistensymbole von Anbeginn eine symme-
trische Entsprechung der Eckfüllungen aufzwingt —
zwei weitere Engel als Schleppträger oder musizie-
rende Begleiter hinzudächte. Der erfolgreiche Ver-
such, den also erschlossenen Bildaufbau des näheren
empirisch festzulegen, ist darüber hinaus zugleich als
die bedeutsamste Vorschubleistung der Formalana-
lyse zu werten, da er in einem bisher unveröffent-
lichten Einblattdruck des Londoner Print Room
(Sehr. 1109 = Dodgson A 58,1 Abb. 6) ein Werk
zutage fördert, das sich mit dem Strahower Madon-
nenschnitt nicht nur durch gegenständliche und kom-
positionelle, sondern auch durch stilistische Ver-
wandtschaft aufs engste verknüpft zeigt. Inwieweit
die beiden Marienverkörperungen für diese Behaup-
tung einstehen, bezeugen die hier wie dort mit harten
Brechungen und scharfhakigen Faltenendungen ar-
beitende Gewandbehandlung, der treppenartige Abfall des Mantels, der sich im Spiegelsinn wiederholt, bezeugen nicht
zuletzt die vollwangigen, von welligen Haarflechten umrahmten Gesichter, denen die stärkste Familienähnlichkeit auf die
hohe Stirn geschrieben ist und durch die Beschaffenheit von Augen, Nase und Mund, die kräftig betonte Kinnlinie und
den zarten Halsansatz Zug um Zug bestätigt wird; wer zum Überfluß nachprüfen will, bis zu welchem Grade sich die
zeichnerischen Übereinstimmungen auf die Nebenfiguren erstrecken, braucht nur eine so unscheinbare und daher doppelt
verräterische Einzelheit wie die seltsam verkrüppelten Hände der orgelspielenden Engel als Teil für das Ganze zu nehmen.
Je zwangloser sich aber endlich auch die technischen Merkmale — die Verdickung des Außenkonturs und die ver-
schiedentlich in den Anfängen steckenbleibende Schraffierung — mit ihrem zwiefachen Vorkommen dieser Beobachtungs-
kette einfügen, desto weniger kann verschwiegen werden, daß die Londoner Madonna dank der Art, wie sie mit griffigeren
Fingern das lebendiger bewegte Jesuskind zur Schau trägt, dank der reicheren Gliederung des Gewandes und nebenher
vielleicht sogar dank der geschmeidigeren Bildung der Zackenkrone einer fortschrittlicheren Auffassung zuneigt als die
nach Strahow verschlagene Gefährtin, die hinwiederum die ruhige Gehaltenheit ihres Wesens und das ausdrucksfähigere
Antlitz vor ungerechter Unterschätzung behütet; sind nun die rein qualitativen Schwankungen mit der dem Gesamtbefund
einzig angemessenen Schlußfolgerung ohne weiteres vereinbar, mag es sich dennoch empfehlen, die übrigen Abweichungen
für zeitlich bedingt und das Londoner Blatt für eine etwas spätere Arbeit des Strahower Meisters zu erklären.
Der nach jeder Richtung hin scharf ausgeprägte Charakter der beiden Mariengestalten begünstigt ihre entwicklungs-
geschichtliche Einreihung, der es im Zweifelsfalle vergönnt ist, die Aussage der Formensprache durch jene der Schnitt-
technik zu ergänzen. So wird man beispielsweise nicht zögern, einen St. Wolfgang des Berliner Kupferstichkabinetts
i V. Catalogue of early German and Flemish Woodcuts in the British .Museum I, London 1003. Für die freundlichst erteilte Erlaubnis zur
Erstpublikation und die Beistellung der Photographie fühlt sich der Verfasser Herrn Direktor Campbell Dodgson zu besonderem Danke verpflichtet.
.Madonna im Strahlenkranz. Inkunabelholzschnitt Sehr. 1109. London,
British Museum (verkleinert).
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