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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 2.1909

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Monatshefte für Kunstwissenschaft

Zuerst zeichnete Bernhard im Jahre 1476 für die beiden Ausgaben von Müllers Kalen-
darium1) ein Alphabet in einfachem Linienschnitt.2) Längliche, mehrlappige Blätter mit
ausgezackten Spitzen, die sich meist an den Enden einrollen, schmiegen sich um den
Buchstabenkörper, der aus Baumästen gebildet zu sein scheint; teilweise hängen kleine,
ebenfalls ausgezackte Blüten von den Ästen herab und füllen den leeren Raum in der
Mitte der Buchstaben aus. Das ganze macht noch einen durchaus gotischen Eindruck
und erinnert lebhaft an einige in frühen deutschen Drucken vorkommende Initialen,
besonders an solche, die in der Offizin des Ulmer Buchdruckers Johann Zainer ver-
wandt worden sind. Nur sind Bernhardts Buchstaben viel freier und sicherer ge-
zeichnet. Ein eigenartiges Raum- und Stilgefühl beherrscht diese Formen und verrät
sofort die Hand eines echten Künstlers. Der deutsche Charakter der Initialen, der
schon Pollard, aufgefallen ist, darf uns jedoch nicht dazu verleiten, dieselben dem
Meister abzusprechen, der die in den Ratdoltschen Drucken vorkommenden Renaissance-
Ornamente geschaffen hat. Daran hindert uns der Vergleich mit der für dasselbe Buch
entworfenen Bordüre4), die in jeder Beziehung, sowohl technisch als auch stilistisch,
mit den Initialen übereinstimmt. Wir finden hier wieder dieselben in Linienmanier
gezeichneten, gotisch anmutenden Blatt- und Blütenformen. Aber das Ganze durch-
weht bereits ein Hauch vom Geiste der Renaissancekunst. Die Seitenleisten sind kan-
dellaberartig aufgebaut: Pflanzenranken scheinen aus zierlichen Vasen herauszuwachsen,
ähnlich wie wir es bereits in der Antike und besonders in der Pilasterornamentik der
Renaissancearchitektur finden. Diese offenbare Anlehnung an die Formen der ange-
wandten Plastik, die hier zum ersten Male zu beobachten ist, ist für die Entwickelung
des venezianischen Holzschnitts von der größten Bedeutung gewesen. Denn gerade
die Vorliebe für Verwendung plastischer Motive gibt diesem eine ganz eigenartige
Stellung in der Geschichte der graphischen Künste und bringt ihn in eine gegensätz-
liche Richtung zu allen anderen Schulen., Mit Recht hat Redgrave, auf die Ähnlich-
keit unserer Bordüre mit der Ornamentik der Illustrationen des Poliphilo hingewiesen;
sie erscheint tatsächlich als eine Vorahnung jener so oft gepriesenen Musterleistung
venezianischer Buchkunst. Die beiden kleinen Vignetten, die den unteren Ab-
schluß der Bordüre bilden, leiten mit ihren eigentümlichen Schlingmotiven schon zu
den späteren Arbeiten Bernhards über. Freilich technisch unterscheiden sich jene
wesentlich von seinen Erstlingswerken. Er arbeitete von nun an in der sogenannten
Sgraffito-Manier, die er wahrscheinlich als erster7) in die typographische Bücherorna-

9 Hain 13776 u. 13789.

-) Redgrave a. a. 0., S. 27, Nr. 1, abg. Tafel III.

g Italian Book Illustrations, London 1894, S. 10.

, Abg. Redgrave a. a. 0., Tafel II und Essling a. a. 0., I, 241.

5) Vgl. Kristeller, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten, S. 126.

6) Erhard Ratdolt a. a. 0., S. 7.

7) Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Vorrang, diese Art der Ornamentik eingeführt zu
haben, römischen Druckern gebührt. Eine in diesem Stil gehaltene Titeleinfassung findet sich in
einem Exemplar des 1465 von Sweynheim und Pannartz in Subiaco gedruckten Lactantius (Hain
9806), das Lippmann (Jahrbuch d. K. Preuß. Kunsts. III, 7) gesehen hat. Einige Initialen, die
Bernhards Arbeiten sehr ähnlich sind, zeigt auch ein Exemplar des bei denselben Druckern 1470
 
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