0. Hettner. Zeichnerische Gepflogenheiten bei Michelangelo
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des Schwebens ist der Engel fraglos richtiger. Nur die Beibehaltung des linken
Armes der Studie der Gesamterscheinung ist für den „Ganymed" glücklich. Die Hand
greift so wirklich in das Gefieder des Adlers. Bewogen also den Maler kompositionelle
Gründe, bewußt die richtigere Bewegung aufzugeben, um eine schönere Form- oder
Flächenverteilung zu erhalten?1) Wenn wir den „Ganymed" nach dem Engel ergänzen,
wird die kleinliche helle Spitze zwischen den Schwanzfedern des Adlers und dem
linken Schenkel durch den anderen Schenkel günstig ausgefüllt, ferner dessen äußerer
Kontur eine erfreuliche dritte Parallele zwischen den äußeren Konturen des Schwanzes
und des linken Oberschenkels einfügen,
die schrägere Lage der Beine die etwas ge-
waltsame Ecke des Knies mildern und glück-
licher mit der Richtung des linken Armes
harmonieren, endlich die gestreckteren Füße
die peinliche Parallelität des äußeren Konturs
der linken Sohle zum Rahmen aufheben.
Die Enwicklung, die der Engel nach Ab-
schluß der Gesamtstudie durchgemacht hat,
wäre also auch für den „Ganymed" von
guten Folgen gewesen. Der Maler des
Engels kann ihn also sicher nicht später wie
diesen gemalt haben.
Aber vorher? Dann wäre also die
Erkenntnis und die ausführlichere Arbeit erst
verspätet bei der zweiten Figur gekommen?
Das ist an sich von einem so erfahrenen
Praktiker und einem Künstler wie Correggio
nicht anzunehmen und am wenigsten in
diesem Falle. Der „Ganymed" ist ein Tafel-
bild und die schwebende Bewegung das
Hauptmotiv der einzigen Figur. Und hätte
er sie selbst dafür so ungenügend akzep-
Abb. 17. CORREGGIO (?) Detail. „Ganymed"
tiert, so wäre sie gewiß für den Engel, der als unbedeutende Nebenfigur in dem
Gewimmel der Gruppierung, dazu in der Höhe des Zwickels, fast verschwindet,
genügend gewesen.
Es scheint also wenig wahrscheinlich, daß der „Ganymed" von Correggio sei
Er kann ebenso wenig, wie H. v. Tsdiudi und Ricci annehmen, dem Fresko entnommen
sein. Er ist vielmehr von einem Nachahmer mit strenger Benutzung der correggioschen
Studie zur Gesamterscheinung des Engels gemalt worden, und das ohne Einsicht von
deren bedingten Unzulänglichkeiten, wenigstens ohne den Trieb sie aufzuheben.
Auf dieser Studie war der Kopf gewiß der eines gleichgültigen Modelles, der
9 Ich muß eingestehen, daß meine Kritik und diese Untersuchung ausschließlich an Photo-
graphien gemacht sind. Ich kenne weder Parma noch Wien, und Gronau sagt sehr Gutes über
die malerischen Qualitäten des „Ganymed".
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des Schwebens ist der Engel fraglos richtiger. Nur die Beibehaltung des linken
Armes der Studie der Gesamterscheinung ist für den „Ganymed" glücklich. Die Hand
greift so wirklich in das Gefieder des Adlers. Bewogen also den Maler kompositionelle
Gründe, bewußt die richtigere Bewegung aufzugeben, um eine schönere Form- oder
Flächenverteilung zu erhalten?1) Wenn wir den „Ganymed" nach dem Engel ergänzen,
wird die kleinliche helle Spitze zwischen den Schwanzfedern des Adlers und dem
linken Schenkel durch den anderen Schenkel günstig ausgefüllt, ferner dessen äußerer
Kontur eine erfreuliche dritte Parallele zwischen den äußeren Konturen des Schwanzes
und des linken Oberschenkels einfügen,
die schrägere Lage der Beine die etwas ge-
waltsame Ecke des Knies mildern und glück-
licher mit der Richtung des linken Armes
harmonieren, endlich die gestreckteren Füße
die peinliche Parallelität des äußeren Konturs
der linken Sohle zum Rahmen aufheben.
Die Enwicklung, die der Engel nach Ab-
schluß der Gesamtstudie durchgemacht hat,
wäre also auch für den „Ganymed" von
guten Folgen gewesen. Der Maler des
Engels kann ihn also sicher nicht später wie
diesen gemalt haben.
Aber vorher? Dann wäre also die
Erkenntnis und die ausführlichere Arbeit erst
verspätet bei der zweiten Figur gekommen?
Das ist an sich von einem so erfahrenen
Praktiker und einem Künstler wie Correggio
nicht anzunehmen und am wenigsten in
diesem Falle. Der „Ganymed" ist ein Tafel-
bild und die schwebende Bewegung das
Hauptmotiv der einzigen Figur. Und hätte
er sie selbst dafür so ungenügend akzep-
Abb. 17. CORREGGIO (?) Detail. „Ganymed"
tiert, so wäre sie gewiß für den Engel, der als unbedeutende Nebenfigur in dem
Gewimmel der Gruppierung, dazu in der Höhe des Zwickels, fast verschwindet,
genügend gewesen.
Es scheint also wenig wahrscheinlich, daß der „Ganymed" von Correggio sei
Er kann ebenso wenig, wie H. v. Tsdiudi und Ricci annehmen, dem Fresko entnommen
sein. Er ist vielmehr von einem Nachahmer mit strenger Benutzung der correggioschen
Studie zur Gesamterscheinung des Engels gemalt worden, und das ohne Einsicht von
deren bedingten Unzulänglichkeiten, wenigstens ohne den Trieb sie aufzuheben.
Auf dieser Studie war der Kopf gewiß der eines gleichgültigen Modelles, der
9 Ich muß eingestehen, daß meine Kritik und diese Untersuchung ausschließlich an Photo-
graphien gemacht sind. Ich kenne weder Parma noch Wien, und Gronau sagt sehr Gutes über
die malerischen Qualitäten des „Ganymed".