Abb. 1.
Über den Ursprung der Stalaktiten und einiger
anderer mittelalterlicher Baumotive
Von Bruno Schulz
„Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen."
Goethe.
Als man in Europa anfing sich mit der Kunst des Islam zu beschäftigen, war
es natürlich, daß der Eindruck des Fremdartigen zunächst so stark war, daß man sie
als etwas durchaus Einheitliches und von der gewohnten Formenwelt Abweichendes
auffaßte und infolgedessen die durch zeitliche, örtliche und andere Verhältnisse bedingte
Verschiedenheit innerhalb der orientalichen Formen ebensowig wahrnahm, wie die
Zusammenhänge, die zwischen den fremden und den heimischen und bekannten Formen
bestanden. So kam es, daß zwei Irrtümer sich festsetzen und lange erhalten konnten:
der Glaube an ein unverändertes Fortbestehen der orientalischen Kunst durch die Jahr-
hunderte, also an das Fehlen einer Entwicklung in ihr, und die Überzeugung von
ihrer unbedingten Originalität. Heute kennen wir die Entwicklung, die die
islamische Kunst wie jede andere durchgemacht hat, wenigstens in den großen Zügen,
und nehmen auch mehr und mehr die Übergänge wahr, die von der älteren Kunst
zu den eigentlich arabischen Formen hinführen. Naive frühere Erklärungsversuche,
wie die Ansicht, das farbige Flachornament der arabischen Wände stamme vom
orientalischen Teppich — der
auf den Fußboden gehört und
nicht an die Wand — oder
gar vom Beduinenzelt — das
schwarz ist und überhaupt
keine senkrechten Wände hat
— müssen dabei dem Nach-
weis einer allmählichen Ab-
leitung der islamischen For-
men aus denen der voris-
lamischen Kunst weichen.
Welchen Anteil nun
die einzelnen vorislamischen
Kulturzentren an der Ent-
stehung der mittelalterlichen
Kunst in Orient und Occi-
dent gehabt haben, darüber
herrscht zurzeit lebhafter Streit.
Der kann meines Erachtens nur
dadurch seiner Entscheidung
näher gebracht werden, daß
die mittelalterlichen und die