P. F. Schmidt. Der Meister des Berliner Martin und Hans von Heilbronn 339
Abb. 1. Der hl. Martin. Berlin,
Kaiser Friedrich -Museum
einer großen edlen Linie den Rhythmus des Standmotives begleiten. Selbst die Fältelung
des linken Ärmels und des herabhängenden Mantelendes zur Rechten ist in die Kurve
einbezogen; die Geberde des Heiligen letzten Endes nur dekorativ wirksam. Die
Faltengebung hat aber innerhalb des bedeutenden Hauptmotives etwas heimlich Er-
regtes; die Bauschen gleichen einem Plateau, das von
tiefen Schluchten durchschnitten wird, ihr Rand ist
knitterig wie bei einem Seidenstoff und endet in
muldenförmigen Zungen. In wirksamen Gegensatz
gegen diese zeichnen sich unterhalb der Faltenzüge
Schenkel und Knie klar durch den gefütterten Mantel-
stoff hindurch ab. Das Haupt ist energisch gebildet,
von vierkantigem Typus, Kinn und Stirn als ent-
schiedene Kriterien des Willensausdruckes fassen das
Gesicht zusammen; Kinn und Mund, Nase und Brauen
wölben sich aus ihrer Umgebung in plastischer Be-
tonung heraus — besonders eigentümlich der Mund,
dessen ganzer Bau die Erhöhung des Schließmuskels
namentlich an den Mundwinkeln unterstreicht. Die
Augen blicken kühn und ruhig unter starker Brauen-
wölbung hervor; und den Eindruck eines Mannes,
dem das Herrschen selbstverständliche Lebensbetätigung
ist, der gelassen über die Umwelt verfügt, vollendet
die geringelte Lockenfülle, die den Kopf umgibt, voll-
endet auch etwas scheinbar so Nebensächliches wie
die Schuhe, die mit breiten Flächen, als „Kuhmäuler",
auf der Erde haften, ihrem Träger festen Stand ver-
bürgend.
Man braucht gar nicht bis ins XV. Jahrhundert
zurückzugehen, um die Gestalt des Martinus als Gegen-
satz zum gotischen Ideal zu empfinden. Auch die
spätesten Figuren Riemenschneiders sind ängstlich und
haltlos neben ihr, die des Krafft bäurisch, und alle
ihre Genossen von den schwäbischen Altären des
XVI. Jahrhunderts scheinen nur schwankende Gestalten
neben der gesunden Fülle des Martinus. Will man
seinesgleichen sehen, so muß man sich zu den besten
Schöpfungen von Vischer und Stoß und zur „Nürn-
berger Madonna" bemühen. Erst in den großen Schöpfungen der deutschen Renaissance-
plastik findet man diesen Geist stolzer Größe und des Selbstbewußtseins wieder, der
so außerordentlich kontrastiert gegen das unterwürfige Zusammenknicken der gotischen
Figuren. Zwei Weltalter stehen da gegeneinander, diein ihrer plastischen Gesinnung
wenig miteinander gemein haben, wenn sie auch ihre Formeln auf denselben Ursprung
zurückführen, auf das kirchliche Heiligtum. Die einen, die Gotiker, möchten die Himmels-
Abb. 1. Der hl. Martin. Berlin,
Kaiser Friedrich -Museum
einer großen edlen Linie den Rhythmus des Standmotives begleiten. Selbst die Fältelung
des linken Ärmels und des herabhängenden Mantelendes zur Rechten ist in die Kurve
einbezogen; die Geberde des Heiligen letzten Endes nur dekorativ wirksam. Die
Faltengebung hat aber innerhalb des bedeutenden Hauptmotives etwas heimlich Er-
regtes; die Bauschen gleichen einem Plateau, das von
tiefen Schluchten durchschnitten wird, ihr Rand ist
knitterig wie bei einem Seidenstoff und endet in
muldenförmigen Zungen. In wirksamen Gegensatz
gegen diese zeichnen sich unterhalb der Faltenzüge
Schenkel und Knie klar durch den gefütterten Mantel-
stoff hindurch ab. Das Haupt ist energisch gebildet,
von vierkantigem Typus, Kinn und Stirn als ent-
schiedene Kriterien des Willensausdruckes fassen das
Gesicht zusammen; Kinn und Mund, Nase und Brauen
wölben sich aus ihrer Umgebung in plastischer Be-
tonung heraus — besonders eigentümlich der Mund,
dessen ganzer Bau die Erhöhung des Schließmuskels
namentlich an den Mundwinkeln unterstreicht. Die
Augen blicken kühn und ruhig unter starker Brauen-
wölbung hervor; und den Eindruck eines Mannes,
dem das Herrschen selbstverständliche Lebensbetätigung
ist, der gelassen über die Umwelt verfügt, vollendet
die geringelte Lockenfülle, die den Kopf umgibt, voll-
endet auch etwas scheinbar so Nebensächliches wie
die Schuhe, die mit breiten Flächen, als „Kuhmäuler",
auf der Erde haften, ihrem Träger festen Stand ver-
bürgend.
Man braucht gar nicht bis ins XV. Jahrhundert
zurückzugehen, um die Gestalt des Martinus als Gegen-
satz zum gotischen Ideal zu empfinden. Auch die
spätesten Figuren Riemenschneiders sind ängstlich und
haltlos neben ihr, die des Krafft bäurisch, und alle
ihre Genossen von den schwäbischen Altären des
XVI. Jahrhunderts scheinen nur schwankende Gestalten
neben der gesunden Fülle des Martinus. Will man
seinesgleichen sehen, so muß man sich zu den besten
Schöpfungen von Vischer und Stoß und zur „Nürn-
berger Madonna" bemühen. Erst in den großen Schöpfungen der deutschen Renaissance-
plastik findet man diesen Geist stolzer Größe und des Selbstbewußtseins wieder, der
so außerordentlich kontrastiert gegen das unterwürfige Zusammenknicken der gotischen
Figuren. Zwei Weltalter stehen da gegeneinander, diein ihrer plastischen Gesinnung
wenig miteinander gemein haben, wenn sie auch ihre Formeln auf denselben Ursprung
zurückführen, auf das kirchliche Heiligtum. Die einen, die Gotiker, möchten die Himmels-