Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

Citation link:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/monatshefte_kunstwissenschaft1911/0276
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Doch soll die Entwicklung, um sie klarer hervortreten zu lassen, hier nur an den
Hauptwerken dargestellt werden1).
Die Entwicklung der vorhergehenden Epoche, vom Ende des XII. Jahrhunderts
bis etwa 1220, die in ihrem Verlauf die Entwicklung dieser Epoche vorbereitet,
hat durch Goldschmidt eine Darstellung erhalten, die ich im wesentlichen anerkenne.
Nur möchte ich den französischen Einfluß, der nach Goldschmidts Meinung zur
Entwicklung wesentlich beigetragen haben soll, sehr gering einschätzen. Der fran-
zösische Einfluß scheint mir mehr auf inhaltlichem als auf formalem und geistigem
Gebiet zu liegen, daher gegenüber den einheimischen Elementen durchaus zurück-
zutreten. Die Hauptwerke dieser vorhergehenden Epoche, die Chorschrankenreliefs
in der Liebfrauenkirche zu Halberstadt und das von Goldschmidt rekonstruierte
Nordportal am Magdeburger Dom 2), gehören in das Jahrzehnt 1210—20.
Sehr stark ist dagegen der französische Einfluß an den Figuren der klugen und
thörichten Jungfrauen am Magdeburger Dom sowie an den Bamberger Figuren.
Diese Werke, die um das Jahr 1240 zu datieren sind, stehen ganz außerhalb der
einheimischen Entwicklung, sind also auch nicht, wie Goldschmidt meint3), Vor-
stufen der Naumburger Werke. Denn die Naumburger Werke, die nach dem
Jahre 1250 beginnen, haben wieder durchaus einheimischen Charakter, sie nehmen
die Entwicklung wieder auf, die mit dem Jahre 1230 unterbrochen worden war.
So besteht also in der Zeit von 1230 bis 1250 eine Unterbrechung der Entwick-
lung, ein Ruhen der geistigen Kraft, wie es zu Beginn der Einleitung erwähnt
wurde. Erst der Naumburger Meister brachte diese Entwicklung zum Abschluß und
ging weit über das hinaus, was vorher erstrebt und erreicht worden war.
I. NATURALISMUS
Die meisten Begriffe der Kunstwissenschaft sind durch die oberflächliche Kunst-
schreiberei unserer Zeit so sehr ihrer sicheren Bedeutung beraubt worden, daß es
vorläufig nötig ist, sie immer wieder, so oft sie angewendet werden, zu definieren.
So ist bei dem Begriff des Naturalismus, der ja unter jenem Mißbrauch besonders
stark gelitten hat, zunächst festzuhalten, daß auch bei dieser Anschauungsweise
der Künstler die Natur nicht abschreibt, daß er eine Veränderung des Naturvorbildes,
eine Art Stilisierung vornimmt. Nur ist doch die besondere Eigenart des Natur-
vorbildes für sein Schaffen in erster Linie maßgebend. Anders ist es bei dem
Künstler der entgegengesetzten Anschauungsweise, des Idealismus. Hier tritt der
Künstler mit einer vorher feststehenden formalen Idee an den Gegenstand heran
und unterwirft dieser Idee die Naturform4). Der Naturalismus richtet sich haupt-
sächlich auf zwei Eigenschaften des Naturgegenstandes, seine äußere Form und

(1) Gute Abbildungen der besprochenen Werke finden sich in M. Sauerlandt, Deutsche Plastik des M.-A.,
Düsseldorf-Leipzig (Langewiesche) , Hasak, Geschichte der deutschen Bildhauerkunst im XIII. Jahr-
hundert, Berlin, Schmarsow, Die Bildwerke des Naumburger Domes, Magdeburg 1892, einige auch bei
Goldschmidt, Studien zur Geschichte der sächsischen Skulptur, Berlin 1902.

(2) A. a. O. S. 35.

(3) A. a. O. S. 50.

(4) Dies sind dieselben Gegensätze, die Worringer in seinem Buche „Abstraktion und Einfühlung"
(München, 2. Aufl. 1909) mit den Worten „Naturalismus" und „Stil" bezeichnet. Nur halte ich es
für nötig, diese Begriffe bedeutend weiter zu fassen, als es Worringer tut. Dann aber ergibt sich
keine Schwierigkeit mehr, sie auch auf die nordische Kunst anzuwenden, die Worringer (S. 30) noch
als ,ästhetisch unzugänglich" bezeichnet.

262
 
Annotationen