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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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seine organische Funktion. Durch beides sucht er in uns ein stärkeres Gefühl von
der inneren Belebtheit der Dinge zu erregen.
Die deutsche Plastik hat einen langen und sicherlich auch mühevollen Weg
zurücklegen müssen, bis sie sich vom Idealismus, der in diesem Fall eine starke
Gebundenheit bedeutet, zu dem Ziele eines reinen Naturalismus durchgerungen hat.
Denn die ersten plastischen Werke des XIII. Jahrhunderts sind noch durchaus
idealistisch. Die Idee, der die Formen hier unterworfen sind, kann man als lineare
Ornamentik bezeichnen, denn sie äußert sich hauptsächlich in zwei Faktoren, die
auch die Hauptmotive der altgermanischen Ornamentik bilden, in der Wiederholung
und im Endschnörkel.
Das Motiv der Wiederholung, das ja für alle primitive Kunst charakteristisch ist1),
beherrscht durchaus die Werke, die noch der vorhergehenden Gruppe angehören,
z. B. die Stuckreliefs an den Chorschranken der Liebfrauenkirche in Halberstadt.
Hier ist jeder Hauptzug des Faltenwurfs durch eine Anzahl paralleler, ganz dekorativ
gezogener Linien gebildet. Aber auch zu Beginn dieser Gruppe finden wir dieses
Motiv, z. B. an den drei Kruzifixen von Halberstadt, Dresden und Wechselburg in
den Dreiecksfalten, die die Lendentücher über dem Schoß bilden. Ähnliche Drei-
ecksfalten treten auch bei Maria und Johannes in Halberstadt auf, während sie bei
den gleichen Figuren der anderen Kreuzigungsgruppen schon fehlen. Bei der Halber-
städter Maria ist auch das Mantelstück, das quer über ihre Brust läuft, mit großen
Parallelzügen geschmückt. Besser motiviert, durch den tektonischen Charakter der
Figuren, ist die Wiederholung an den Figuren der Dresdener Gruppe, wo viele
senkrechte Parallelfalten den Untergewändern fast die Erscheinung von kannellierten
Säulen geben. Auch diese Form des Wiederholungsmotivs tritt an der Wechsel-
burger Gruppe sehr zurück, aber in Freiberg wird es wieder stärker, nun aber in
mehr organischer als dekorativ-stilisierender Form. Am Braunschweiger Grabmal
ist es dann vollständig aufgehoben. Wenn es in Naumburg wieder auftritt, z. B.
an den großen senkrechten Falten der Mäntel, so ist es in den Dienst einer monu-
mentalen Erscheinung und beseelten Ausdrucks gestellt, ohne daß dabei der Natur
des Gewandes Gewalt geschieht.
Noch früher als dieses hat das Motiv des Endschnörkels aufgehört. Es zeigt sich
noch auffällig an dem Gewandzipfel, den der Halberstädter Johannes in der linken
Hand hält. Später klingt es nur noch in den wellenförmigen Säumen der Gewänder
nach, zuletzt noch sehr lustig bei der Naumburger Regelindis.
Es ist leicht einzusehen, daß diese Gestaltungsweise, bei extremer Durchführung,
es unmöglich macht, die stoffliche Beschaffenheit und den Fall der Gewänder der
natürlichen Erscheinung entsprechend zu gestalten. Und ebenso zwingt diese starre
Linienführung, z. B. an den Halberstädter Figuren, auch die Körper zur Starrheit
und Steifheit. Es ist eben die alles beherrschende ornamentale Idee, die zwischen
dem Künstler und der Natur eine unüberwindliche Schranke aufrichtet.
Allmählich, im Laufe dieser Entwicklung, werden nun diese beiden idealistischen
Faktoren, die Wiederholung und der Endschnörkel, durch zwei neue Elemente von
anderem, naturalistischem Charakter verdrängt. An die Stelle der starren Parallel-
züge tritt eine weiche Modellierung der Stoffmassen, die ihre natürliche Struktur
stärker fühlbar macht, und der ornamentale Schnörkel wird ersetzt durch den
organischen Fall der Gewänder. Dabei scheint das Gefühl des Künstlers früher
für den natürlichen Fall, also für das Schwergewicht des Gewandes ausgebildet zu
(i) S. Wundt, Völkerpsychologie Bd. II, I.

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