— frühe Datierung der ganzen Gruppe vor 1417!
Das ist, um es gleich zu sagen, überhaupt der
gewichtigste Einwand gegen Hulins Aufstellungen,
daß er alle Miniaturen, die zwischen den für den
Duc de Berry gemalten und den ca. 1450 hinzu-
gefügten Bildern entstanden sind, in die kurze
Zeit zwischen 1415 und 17 einspannen will. So
auch die Bilder seiner Hand „H", die er Jan van
Eyck benennt. Das ist nun aber gewiß nicht an-
gängig. Ich persönlich glaube, daß Gethsemane
(M. 23) und Pieta (T. 29) Werke des Jan van
Eyck sind. Aber einzig und allein wegen ihrer
engen Verwandtschaft mit den uns bekannten
Werken des Jan von 1432 an! Die eminente Stilkraft
dieser Linienzüge, dieser langen, gesättigten Kon-
turen, der unersättliche Realismus der Gesichter
weist auf den reifen Jan, nicht auf den Anfänger;
Johannes und Petrus in Gethsemane stehen dicht
neben der Pala-Tafel und der Frankfurter Madonna.
Diese beiden Bilder also, denen sich Kreuzigung
und Gottvater im Zelt wohl nur als Trabanten an-
reihen, beweisen alleine schon, daß man mit einer
Tätigkeit an der Handschrift in den dreißiger
Jahren des XV. Jahrhunderts zu rechnen hat; die
Hände „F" und „I" desgleichen. Da darf wohl
auch jene rätselvolle Gruppe „G" aus den engen
Schranken, in die Durrieu und Hulin sie eingefaßt,
heraustreten und in das dritte bis vierte Jahrzehnt
versetzt werden. In jener Zeit rapidester Stilent-
wicklung müssen auch für die entscheidendsten
Fortschritte die kürzesten Zeitmaße angenommen
werden; und man muß damit rechnen, daß ganz
neue Erscheinungen zeitlich hart neben dem Alten
stehen. Aber wir haben doch Vergleichsstücke
von gleicher Qualität zur Hand. Die 1416 eben
vollendeten Kalenderbilder der „Heures de Chan-
tilly" sind gewiß als das Vollkommenste anzusehen,
was um diese Zeit in der französisch-flandrischen
Kunst überhaupt zu leisten war: der Duc de Berry
hatte die besten Renner in seinem Stall. Wie weit
aber stehen diese Bilder vom entwicklungsgeschicht-
lichen Standpunkt aus betrachtet, hinter jenen
Darstellungen der „Tres beiles Heures" zurück.
Dort ganz neue malerische Reize daraus gewonnen,
daß der Ferneindruck an Stelle der mittelalter-
lichen Nahsicht getreten war, aber dafür auch
alles wie im Fernbild gemalt und schließlich
doch in ein dekoratives Liniennetz eingespannt —
hier zum ersten Male ein malerisches Continuum,
eine den ganzen Bildkomplex umspannende, ein-
heitliche, in ungebrochenem Zuge von der Nah-
sicht zur Fernsicht vordringende Anschauung, die
das Einzelne dem Ganzen opfert, den linearen Zu-
sammenhang zugunsten des räumlichen preisgibt,
518
Massenbewegung und atmosphärisches Leben an
die Stelle ruhender Nah- oder Fernbilder setzt.
Darf man solcherlei entgegengesetzte Erschei-
nungen (gleicher Qualität!) wirklich so dicht in
Jahresspanne aneinanderrücken? Die einzige Au-
torisation für solches Wagnis liegt gewiß in der
vollzogenen Taufe jener Bilder auf Hubert van
Eyck. „Pictor, quo [major nemo repertus", wenn
dies in einem kritischen Traktat und nicht in einer
ihrem Wesen nach konventionellen Altarinschrift
stände, würde man bei solcher Taufe gern Pate
stehen. Denn der größte Maler jener Tage und
noch für lange Zeit (es ist ganz ernst zu nehmen,
wenn Hulin vor diesen Bildern an die Holländer
des XVII. Jahrhundert erinnert), war der Schöpfer
dieser Miniaturen. Aber sind wir heute wirklich
schon so weit, den Namen Huberts als etwas
mehr, denn eine verlockende Hypothese, vor diesen
Bildern nennen zu können? Wir wissen von Hu-
bert nur, daß er am Genter Altar beteiligt war.
Grade die Stücke aber, die dort von Jans bekannter
Art abstechen, sind schwer, ungefüge, unmalerisch,
haben mit jenen Phänomenen nichts zu tun. Bleibt
eine Reihe Eyckischer Gemälde, die man ver-
suchsweise dem Hubert zugewiesen. Und diese
berühren sich tatsächlich mit den Miniaturen in
vielem. Aber zwei Hypothesen vermögen einander
nicht zur These zu ergänzen, also bleibt „Hubert"
hier wie dort ein schöner Traum. Grade um jener
Tafelbilder willen aber sei nochmals mit aller Ent-
schiedenheit vor einer zu frühen Datierung der
Miniaturen gewarnt; sie dürfen keinesfalls auf
Grund der schwanken Aussagen einer durch Jahr-
zehnte hindurch laufenden Illustrationsgeschichte
einer Handschrift in so frühe Zeit verwiesen werden.
Hulin verspricht eine eingehende kritische Be-
handlung dieser Fragen. Wir sehen ihr mit
Spannung entgegen und danken ihm für das wert-
volle Geschenk, das er uns in den „Heures de
Milan" beschert hat. Vitzthum.
ANTON MAYER, Das Leben und die
Werke der Brüder Matthäus und
Paul Brill. Leipzig 1910. Verlag von Karl
W. Hiersemann. Kunstgeschichtliche Mo-
nographien, XIV.
Das Thema gehört einem Gebiete der nieder-
ländischen Kunstgeschichte an, das der Forschung
manche Hemmnisse in den Weg legt. Ein Teil
des fast unabsehbaren Bildermaterials aus dieser
Periode der vlämisch-holländischen Landschafts-
malerei befindet sich in den Depots der Galerien
und in den verstecktesten Privatsammlungen. Die
Das ist, um es gleich zu sagen, überhaupt der
gewichtigste Einwand gegen Hulins Aufstellungen,
daß er alle Miniaturen, die zwischen den für den
Duc de Berry gemalten und den ca. 1450 hinzu-
gefügten Bildern entstanden sind, in die kurze
Zeit zwischen 1415 und 17 einspannen will. So
auch die Bilder seiner Hand „H", die er Jan van
Eyck benennt. Das ist nun aber gewiß nicht an-
gängig. Ich persönlich glaube, daß Gethsemane
(M. 23) und Pieta (T. 29) Werke des Jan van
Eyck sind. Aber einzig und allein wegen ihrer
engen Verwandtschaft mit den uns bekannten
Werken des Jan von 1432 an! Die eminente Stilkraft
dieser Linienzüge, dieser langen, gesättigten Kon-
turen, der unersättliche Realismus der Gesichter
weist auf den reifen Jan, nicht auf den Anfänger;
Johannes und Petrus in Gethsemane stehen dicht
neben der Pala-Tafel und der Frankfurter Madonna.
Diese beiden Bilder also, denen sich Kreuzigung
und Gottvater im Zelt wohl nur als Trabanten an-
reihen, beweisen alleine schon, daß man mit einer
Tätigkeit an der Handschrift in den dreißiger
Jahren des XV. Jahrhunderts zu rechnen hat; die
Hände „F" und „I" desgleichen. Da darf wohl
auch jene rätselvolle Gruppe „G" aus den engen
Schranken, in die Durrieu und Hulin sie eingefaßt,
heraustreten und in das dritte bis vierte Jahrzehnt
versetzt werden. In jener Zeit rapidester Stilent-
wicklung müssen auch für die entscheidendsten
Fortschritte die kürzesten Zeitmaße angenommen
werden; und man muß damit rechnen, daß ganz
neue Erscheinungen zeitlich hart neben dem Alten
stehen. Aber wir haben doch Vergleichsstücke
von gleicher Qualität zur Hand. Die 1416 eben
vollendeten Kalenderbilder der „Heures de Chan-
tilly" sind gewiß als das Vollkommenste anzusehen,
was um diese Zeit in der französisch-flandrischen
Kunst überhaupt zu leisten war: der Duc de Berry
hatte die besten Renner in seinem Stall. Wie weit
aber stehen diese Bilder vom entwicklungsgeschicht-
lichen Standpunkt aus betrachtet, hinter jenen
Darstellungen der „Tres beiles Heures" zurück.
Dort ganz neue malerische Reize daraus gewonnen,
daß der Ferneindruck an Stelle der mittelalter-
lichen Nahsicht getreten war, aber dafür auch
alles wie im Fernbild gemalt und schließlich
doch in ein dekoratives Liniennetz eingespannt —
hier zum ersten Male ein malerisches Continuum,
eine den ganzen Bildkomplex umspannende, ein-
heitliche, in ungebrochenem Zuge von der Nah-
sicht zur Fernsicht vordringende Anschauung, die
das Einzelne dem Ganzen opfert, den linearen Zu-
sammenhang zugunsten des räumlichen preisgibt,
518
Massenbewegung und atmosphärisches Leben an
die Stelle ruhender Nah- oder Fernbilder setzt.
Darf man solcherlei entgegengesetzte Erschei-
nungen (gleicher Qualität!) wirklich so dicht in
Jahresspanne aneinanderrücken? Die einzige Au-
torisation für solches Wagnis liegt gewiß in der
vollzogenen Taufe jener Bilder auf Hubert van
Eyck. „Pictor, quo [major nemo repertus", wenn
dies in einem kritischen Traktat und nicht in einer
ihrem Wesen nach konventionellen Altarinschrift
stände, würde man bei solcher Taufe gern Pate
stehen. Denn der größte Maler jener Tage und
noch für lange Zeit (es ist ganz ernst zu nehmen,
wenn Hulin vor diesen Bildern an die Holländer
des XVII. Jahrhundert erinnert), war der Schöpfer
dieser Miniaturen. Aber sind wir heute wirklich
schon so weit, den Namen Huberts als etwas
mehr, denn eine verlockende Hypothese, vor diesen
Bildern nennen zu können? Wir wissen von Hu-
bert nur, daß er am Genter Altar beteiligt war.
Grade die Stücke aber, die dort von Jans bekannter
Art abstechen, sind schwer, ungefüge, unmalerisch,
haben mit jenen Phänomenen nichts zu tun. Bleibt
eine Reihe Eyckischer Gemälde, die man ver-
suchsweise dem Hubert zugewiesen. Und diese
berühren sich tatsächlich mit den Miniaturen in
vielem. Aber zwei Hypothesen vermögen einander
nicht zur These zu ergänzen, also bleibt „Hubert"
hier wie dort ein schöner Traum. Grade um jener
Tafelbilder willen aber sei nochmals mit aller Ent-
schiedenheit vor einer zu frühen Datierung der
Miniaturen gewarnt; sie dürfen keinesfalls auf
Grund der schwanken Aussagen einer durch Jahr-
zehnte hindurch laufenden Illustrationsgeschichte
einer Handschrift in so frühe Zeit verwiesen werden.
Hulin verspricht eine eingehende kritische Be-
handlung dieser Fragen. Wir sehen ihr mit
Spannung entgegen und danken ihm für das wert-
volle Geschenk, das er uns in den „Heures de
Milan" beschert hat. Vitzthum.
ANTON MAYER, Das Leben und die
Werke der Brüder Matthäus und
Paul Brill. Leipzig 1910. Verlag von Karl
W. Hiersemann. Kunstgeschichtliche Mo-
nographien, XIV.
Das Thema gehört einem Gebiete der nieder-
ländischen Kunstgeschichte an, das der Forschung
manche Hemmnisse in den Weg legt. Ein Teil
des fast unabsehbaren Bildermaterials aus dieser
Periode der vlämisch-holländischen Landschafts-
malerei befindet sich in den Depots der Galerien
und in den verstecktesten Privatsammlungen. Die