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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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war es noch nicht annähernd vollendet; ca. 1410
bis 12 hat der Herzog wieder einige Seiten darin
malen lassen und es dann zwischen dem 31. Ja-
nuar 1412 und 31. Januar 1413 an seinen Schatz-
meister Robinet d'Estampes abgegeben. Dieser
hat bald darauf die Handschrift zerstückt: den ersten
Teil behielt er für sich und ließ die wenigen darin
noch fehlenden Bilder nachtragen; dies Fragment
befindet sich heute im Besitz des Barons Maurice
Rotschild in Paris. Den zweiten, noch wesent-
lich unfertigen Teil gab er ca. 1414 bis 15 an
Wilhelm IV. von Baiern, Grafen von Hennegau
und Holland weiter. Nach dessen Tode 1417 ver-
blieb er noch längere Zeit im Besitz der Familie;
sein Bildschmuck ist in mehreren Absätzen bis
um die Mitte des XV. Jahrhunderts vollendet
worden. Er war lange verschollen, tauchte Ende
des XVIII. Jahrhunderts in Italien auf, ward aber-
mals in zwei Teile zerlegt, von denen der erste,
die „Heures de Turin" vor einigen Jahren einem
Brand in der Turiner Bibliothek zum Opfer fielen,
der zweite, hier publizierte, in der Bibliothek Tri-
vulzi zu Mailand verwahrt wird.
Der allmählichen Entstehung entsprechen die
starken Stilunterschiede der Miniaturen. Es war
ein glücklicher Gedanke Hulins, die Tafeln seiner
Publikation chronologisch zu ordnen. Im beglei-
tenden Text nimmt er eine kritische Sonderung
aller Illustrationen der drei Fragmente vor. Er
geht darin beträchtlich über Durrieu hinaus. Wäh-
rend dieser sich begnügt hat, drei „Gruppen" auf-
zustellen, scheidet Hulin nicht weniger als zehn
„Hände", und während Durrieu nur seine mittlere
Gruppe zeitlich festlegt und mit bekannten Künst-
lerpersönlichkeiten in Zusammenhang bringt, sucht
Hulin für alle Hände feste Zeitgrenzen und mög-
lichst bestimmte Namen zu gewinnen. Es ist
fraglich, ob er darin nicht zu weit geht. So schon,
wenn er „A", d. h. die beste Hand aus der Zeit
des Duc de Berry, ohne weiteres mit dem Meister
des Parement de Narbonne identifiziert. So eng
auch die Verwandtschaft zwischen beiden ist, so
scheinen mir die spezifischen Qualitäten des Pare-
ment den Miniaturen grad zu fehlen. Köpfe, Hände,
allgemeine Gewandanlage decken sich. Aber die
Ausführung ist — das Urteil gründet sich immer
nur auf die Reproduktionen! — stark verschieden;
die unendliche Zartheit des Parement in der Zeich-
nung der Gewänder, der straffen und dabei schmieg-
samen Lagerung der Falten ist in den Miniaturen
nicht erreicht. Ist das nur Folge der anderen
Technik? Oder ist's doch eine derbere Hand?
Wie dem auch sei: das vor 1379 entstandene
Parement als nächst verwandtes Stück erkannt zu

haben, ist ein Verdienst. Die Gruppe wird da-
durch ebenso bestimmt wie durch das Porträt des
Herzogs in das volle XIV. Jahrhundert versetzt.
Auf die Zusammensetzung und Datierung der
folgenden minder bedeutenden Gruppen B—E soll
hier nicht eingegangen werden. Das Schwerge-
wicht liegt natürlich auch bei Hulin auf jenen
Bildern, die schon durch Durrieu in den Mittel-
punkt des Interesses gerückt worden sind: den er-
staunlichen Manifestationen eines spezifisch male-
rischen Sinnes, einer bildhaften Anschauungskraft,
die ihresgleichen in jener Zeit nicht hat und die
man darum nur einem außerordentlichen Künstler zu-
trauen mag. Die „Heures de Milan" enthalten ein
paar prachtvolle Gegenstücke zu den bekannten
Turiner Bildern. Aber auf Grund dieser neuen
Stücke muß man vielleicht zu einer neuen Be-
trachtung der Dinge gelangen. Ich möchte mit
voller Bestimmtheit nur die folgenden vier Bilder
einer und derselben Hand vindizieren: Turin 15
(Judaskuß) und 20 (Julian und Martha), Mailand 20
(Geburt des Johannes) und 21 (Totenamt). Die
Jungfrauen Turin 36 sind schon von Haseloff
(Kunstgesch. Ges. Berlin, Januar 1903) etwas ab-
gerückt worden und trotz Hulins Einspruch möchte
ich mich dem anschließen. Sie besitzen das Beste
jener vier Bilder nicht: die instinktive Sicherheit
in der Ordnung der räumlichen Eindrücke. Das
gleiche gilt von der Kreuzfindung Mailand 22.
Und das Herzogsbild? Wer das Original nicht
gesehen hat, darf grade hier wohl kaum mitreden;
die großen Unterschiede in der Wirkung zwischen
dem Lichtdruck in Durrieus Publikation und der
Gravüre in der Gazette mahnen zu äußerster Vor-
sicht. Und doch: es scheint auch ihm etwas von
dem eigentümlichsten jener vier Bilder zu fehlen,
das Improvisierte der so kühn gegen den Rahmen
verschobenen Komposition, das Grazile der einzelnen
Bewegung, das Fluktuierende der ganzen Bilder-
scheinung. Es sind Härten im Nebeneinander der
Figuren und Lücken zwischen den einzelnen Grup-
pen. Das Bild ist nicht wie jene improvisiert,
sondern feierlich aufgebaut, es wirkt monumental
wie ein Tafelbild oder eine Tapisserie. Die Land-
schaft freilich ist gewiß vom Maler des „See-
sturms". Aber, das ist die Frage, kann er sie
nicht hinzugefügt haben, als er das Figürliche
kopierte, nach einem älteren, noch vom Herzog
selbst gestifteten Erinnerungsbild, auf Wunsch der
Familie, in deren Besitz die Handschrift ja noch
lange verblieb? Die Möglichkeit solcher Fragestel-
lung allein muß wohl skeptisch stimmen. Denn
ist das Herzogsbild nicht durchweg Original, so
verliert es die Beweiskraft für die — erstaunlich

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