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Müller, Walter A.
Nacktheit und Entblößung in der altorientalischen und älteren griechischen Kunst — Leipzig, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.14693#0021
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— 11 —

bei dieser Auffassung- jedoch würde sich der fundamentale
Unterschied zeigen zwischen der griechischen Kunst und der
orientalischen, die auf unserem Gebiete nie über die Wirklich-
keit hinausgekommen ist. Aber für eine derartige Abstraktion
finde ich nirgends sichere Analogien, weder in der Kunst der
Naturvölker noch in der der ausgestorbenen oder lebenden
Kulturvölker, soweit sie von der Antike unberührt sind. Überall
nur Bilder der Wirklichkeit, Und daß wir auch in der griechi-
schen Frühzeit nicht zu unmöglichen Resultaten kommen, wenn
wir ihre Darstellungen als real nehmen, soll unten zu zeigen
versucht werden.

Nach der gewöhnlichen griechischen Tradition freilich
war die gänzliche Nacktheit des Mannes erst im Laufe
jener Periode, gegen Ende des 8. Jahrhunderts, bei den
Nationalspielen in Olympia aufgekommen, aber wir werden
gleichfalls unten sehen, daß sowohl die Funde dieser Zeit
wie das Zeugnis des zuverlässigsten griechischen Zeugen,
Thukydides, diese Überlieferung unhaltbar machen. Allerdings
werden es in erster Linie die damals aufblühende Gymnastik
und Agonistik gewesen sein, die dadurch, daß sie bei dem
dorischen Herrenvolk ihre Hauptpflege fanden und von diesem
überall hingetragen wurden, auch die Nacktheit des Mannes
weit verbreitet haben.

Als dann am Beginn des Archaismus die Kunst einen
neuen Aufschwung nahm, bemächtigten sich die Künstler ganz
besonders des nackten, männlichen Körpers. AVährend sie
ihn zum Hauptgegenstand ihrer Studien machten, bildeten sie
das Gefühl für seine Schönheit aus und erkannten in dem von
allen Hüllen befreiten Körper das Idealbild des Menschen.
In ihrer Begeisterung für das neue Schönheitsideal über-
schritten sie aber bald die Grenzen, die ihnen die Wirklich-

MüUer. 2
 
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