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Münzenberger, Ernst Franz August; Beissel, Stephan
Zur Kenntnis und Würdigung der Mittelalterlichen Altäre Deutschlands: ein Beitrag zur Geschichte der vaterländischen Kunst (Band 1): Anfänge und Entwickelung des gotischen Flügelaltares zunächst in Norddeutschland: mit 80 Kunstbeiträgen — Frankfurt a.M., 1890

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https://doi.org/10.11588/diglit.15163#0084
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Anspruch nehmen, sondern daß dasGanze,das er hier
schaut, ihn erbant und ihn die Außenwelt vergessen
läßt. Die Rirche ist das tabernaeulum clöi eum bominibus
und der sie Vesuchende soll das recht fühlen. Daher die
weiten hoheu bsallen, in die der mittelalterliche Styl den
Äetcr eintreten läßt, daher das milde gedämpfte Licht, das
durch die gemalten Fenster eindriugt, daher auch die edle
Zurückhaltung, die dem an sich so reichen frühgothischen
Altaraufsatz bezüglich des architektouischen bservortretens
anferlegt wird. wohl überragt er schon kräftig den Altar-
tisch, wohl streben zierliche Giebel und hohe Thürmchen
empor, letztere oft schou zu bedeutender bföhe, aber noch
orduet sich Alles der Zlrchitektur des Thores unter. Der
kfauptsache nach bleibt dies auch in der weitern uud spätern
Lntwieklnng des Altarbaues, abgesehen von den letzteu
Auslänfern desselbeu, im vollsten Gcgensatze zu deu Altar-
kolossen, mit denen mau in de» letzten Zahrhnnderten regel-
mäßig die Airchen verunstaltete.

Gewiß zeigt der Glanz, der von senen in Gold strahlen-
den Altären ansgeht, daß wir dort die heiligste Stätte des
Gotteshauses vor uns haben; dennoch aber läßt dieser Glanz
die Schönheit und Aunst zunächst bloß ahneu. die sich hier
i» erhabener Fülle bei näherem Beschauen darbietet, nament-
lich wenn »och dazu, wie in alter Zcit cs Begel war, der
Lhor durch eineu Lettner geschlossen und wenn durch seine
Meffnunge» hindurch der Zlltar uur hie und da sichtbar war.

ksat so die kirchliche Architektur im verein mit der
Glasmalerei und der 5lulptur ihr lsauptziel erreicht und das
Gemüth des Lintretende» der Zlnßenwelt entzogen, dann
mag derselbe im verlanf seiner Anwesenheit in der Airche
das Linzelne betrachten. Zetzt findet er beim bsiuaufschauen
zn den hohen Fenstern dieselben von bseiligengestalten nnd
Atedaillons mit Darstellungen ans der hl. Geschichte erfüllt,
die bei öftcrem nud läugerem ksinschauen klarer nnd klarer
sich darstellen. Auf deu Mäiiden mahnen ihn heilige
Malereien zur Audacht, und tritt er näher zum Altare, so
sieht er freudig, wie schön und herrlich derselbe im Liuzelnen
ausgestattet ist.

Daß Derartiges erbaueu nnd fromm stimmen kann,
läßt sich leicht begreifen. Denken wir uns aber statt dessen
eine weite und große Rirche mit weißen Fenstern, mit grau
angestricheneu Atatuen an den pfeilern, mit übergroßen,
beim ersten Lintritt in die Rirche sich gleich mit ihrem
ganzen geistigeu Gehalt präsentirenden Altären, so läßt sich
eben so leicht erklären, daß dies keine Andacht schafft. Gffen
und nüchtern stellt sich Alles gleich dar, das Auge überschaut
den weiten Banm mit wenigen Blicken; zu ahnen, nachzu-
denken, zu suchen und herauszufinden gibt's da Nichts.

wohl hat sich die moderne „Gothik" von dieser Büchtern-
heit frci zu machen gesucht; sie versieht die Fenster wieder
mit Alalereien, sie „polychromirt" auch IBände und Gewölbe,
sie wagt sich auch au gothisch sein sollende Altäre, aber der
Zopf der Monotonie und der modernen Art hängt ihr doch
an. Die Fenster müssen schön gleichfärmig gestaltet werden,
eincs wie das andere, meist große in der Neihe stehende
Ifeiligenbilder uuter Baldachinen; die gleiche schulmäßige
Sorge zeigt sich an deu Wänden, wo man nicht wagt, die
kräftige Färbung der alten Airchen und die mannichfaltige
Abwechslung in den Motiven der Dekoration und der
Malerei nachzuahmen, wie sie einen so großen Neiz der
nüttelalterlichen Nirche bildet. Die Seitenaltäre müssen schön
symmetrisch sein, damit man, wenn der eine gesehen worden

ist, die andern gleich mitgesehen habe, und beim bsochaltar
ist ein bsaupterforderniß, daß er „wirke", daß man alsbald
beim Lintritt in die Rirche das ganze Bildwerk, das er
aufzuweisen hat, vor sich habe. Das, so wähnt man, erbaue,
während man gar nicht bedenkt, daß die religiöse Nunst, die
Nichts zu denken und zn ahnen gibt, nicht wahrhaft erbanen
kann. Niag man dann auch diese großen, vom ssortal aus
schou ganz erkennbaren Figuren noch so süß und fromm-
thuend darftellen, das hilft doch nicht. Nkan möchte bei
solchen Nunstwerken an das bekannte wort denken: Nkan
merkt die Absicht und wird verstimmt. Den Figuren der
frühgothischen Altäre kann man Alles eher vorwersen als
Süßlichkeit und künstlich gesuchten frommen Ausdrnck, und
doch, wie wahrhaft fromm siud sie. Nbögen unsere Architekten
und Bildhauer gerade die frühgothischen Altäre recht studiren
und an ihnen ihreu Geschmack und ihren Styl bilden, dann
werden wir bald auch wieder wirklich stylgerechte und er-
baulich wirkende Altäre bekommen.

I'. Dic chliigklaltärr drr miltlrrn golhischrn prriodr.

5oll man die Lrzengnisse in so reicher Fülle schaffender
Nünste, wie die mittelalterliche Skulptnr und Nialerei sie
uns darstellen, grnppiren und den verschiedenen Zeitab-
schnitten, denen sie ihr Lntstehen verdanken, znweisen, so
ergeben sich nicht geringe Schwierigkeiten. Znerst darf man
dabei nicht vergessen, in wie regem künstlerischem Berkehr
in alter Zeit die einzelnen Landschaften Deutschlands ge-
standen haben. Gewiß hat es neben dem nationalen Styl
anch eine lokale Runst gegeben, aber überaus schwierig ist
es, ohne genaue mschriftliche oder archivalische Angaben,
an dcnen wir gerade hier noch sehr arm sind, die einzelnen
Nunstwcrke bestiminten Schulen oder Runststätten zuzuschreiben.
weit größer, als man sich jetzt vielfach denkt, war in nüttel-
alterlicher Zeit der lünstlerische verkehr einzelner Völker und
Landschaften unter einauder, so daß sich nnr zu oft keine
gcuaueren Zuweisungen lokaler Art aufstellen lassen.

Nicht weniger chchwierigkeiten aber ergeben sich bezüglich
der Zeitbestimmung. Zn den verschiedenen Gegenden Dentsch-
lands ist man keineswegs gleichförmig in der Lutwicklnng
dcs chtyls fortgeschritten. wie sehr zeigt sich Solches im
fZ. Zahrhundert z. B. in Bezug auf die Baukunst; im
Norden unseres vaterkandes hielt man lange noch fest an
der überlieserten romanischen Art, während am Nheiu und
iu Nütteldeutschland maii schon voll und ganz sich der Gothik
hinzugeben begann. So erhielten fich auch die Traditionen
der frühern gothischen Nniist in der einen Gegend viel
länger als in der andern, und wenn dies schou nüt Bezug
anf die Architektur sich an zahlreichen Beispielen nachweisen
läßt, dann wird ohne Zweifel aiizunehmen sein, daß es in
uoch höherem Nkaße bei der Skulptur der Fall gewesen ist.
So kann es konimeu, daß in der einen Gegend man in der
Niitte des fZ. Zahrhunderts noch durchgängig Formen
anwandte, die anderswo schon dreißig, vierzig Zahre vor-
her verlassen und mit spätern vertauscht worden sind.

Sowie wir daher den Schluß der frühern periode nnr
ganz unmaßgeblich bestimmen konnten, so ergeht es uns auch
bei Fixirung des Abschlusses der zweiten Zeit. Schon gegen
die Niitte des Zahrhunderts treten, wie wir später im
Tiuzelnen sehen werden, hie und da ganz neue Niotive in
der Gestaltung der Altäre auf, die nnzweifelhaft auf die
 
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