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Deutscher Museumsbund [Mitarb.]
Museumskunde: Fachzeitschrift für die Museumswelt — 8.1912

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Klein, Wilhelm: Die Aufgaben unserer Gibsabguss-Sammlungen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.70501#0122

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I IzJ. Klein, Die Aufgaben unserer Gipsabguß-Sammlungen.

keit nahe. Jetzt erst fühlt er sich berufen, von ihr zu erzählen, zu schreiben und
zu schwärmen. —- Welcher Art ist nun die geheimnisvolle Kraft, die wir hier wirken
sehen? Es ist das gleiche Fluidum, das alle historischen Denkmale ausströmen,
von den Pyramiden von Gizeh mit. dem gewaltigen Sphinxkoloß davor angefangen,
über Akropolis und Forum und Kollosseum bis zu den Domen und Burgruinen des
Mittelalters, das umso kräftiger wirkt, je stärker sein künstlerischer Gehalt ist. In-
dessen das Goethesche Wort: »Aller Güter Höchstes ist doch die Persönlichkeit«
gilt auch für die künstlerische Erscheinung. Die Probe darauf liefert die Art, wie
sich die Schäden der antiken Statuen in uns zu pathologischen Vorstellungen um-
setzen, ähnlich denen, die die Leiden des Laokoon, des sterbenden Galliers und
anderer antiker Passionsbilder auslösen. Die Aphrodite von Melos verdankt einen
guten Teil ihres Ruhmes dem Fehlen der Arme; der Hermes des Praxiteles verliert
durch die Ergänzung auch in der neuesten Herstellung ein Feines von dem über-
wältigenden Reiz, den er ausstrahlt, und von dem Torso vom Belvedere würden
die Hymnen wohl ungesungen geblieben sein, wäre er nicht als solcher der Erde
entstiegen. So ganz modern ist diese Empfindsamkeit nicht. Die koische Aphrodite
des Appelles ist erst zu ihrem Weltruf gekommen, als das Bild in den unteren Partien
schwer beschädigt war; welchen Reiz sie gerade dadurch auf die römischen Kunst-
kenner ausgeübt hat, künden uns zahlreiche Stimmen. Aber das Geheimnis der Kraft,
die von den Trümmern der Antike direkt ausgeht, hat die unergründlich tiefe Weisheit
der katholischen Kirche in ihrem Reliquienkultus längst erkannt und wirksam genutzt.
Deren Wunderkraft lebt darin, daß sie uns über Zeit und Raum hinweg in unmittel-
baren Kontakt mit dem Wunderspender, dem sie entstammen, bringen, und ganz
ähnlich ist die Wirkung jener. Wie die sinnliche Welt den Zusammenhang mit der
übersinnlichen, die in sie hineinragt, festhalten muß, so gut sie es eben kann, so
ist ihre moderne Kultur mit allen ihren Wurzeln und Fasern mit der des Hellenen-
tums untrennbar verbunden. Diese Tatsache ist uns von der Schule her bekannt,
sie offenbart sich auf allen Wegen und gilt als Selbstverständlichkeit, die gern und
oft erläutert und beleuchtet wird, und auf dem Gebiet in der größten aller Leistungen
des Hellenentums, in der Kunst, spüren wir zu verschiedensten Zeiten ihre Ein-
wirkung gar kräftig. Aber unmittelbar sinnfällig stellt das antike Kunstwerk diesen
Kontakt her. Das ist der Zauber, den er ausübt und ihn kräftig auswirken zu lassen,
die Aufgabe, die unsern Antikenmuseen zufällt; diesen empfangenen Kontakt nutzbar
und förderlich zu machen, die Aufgabe unserer Gipssammlungen.
 
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