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stehen, daß die Minnebewegung trotz der entgegenstehenden Ge-
dankenwelt der Kirche sich so allgemein durchzusetzen vermochte.
Aber innerhalb der allgemeinen Blut'krank'heit, die das Persönlich-
Besondere dem Allgemeinen, die das Individuum dler Gesellschaft
opferte, war doch bei einigen Kopf und Herz wach geblieben. Bei
ihnen sind Natur und Individuum nicht entrechtet; die Gesellschaft
hat nur formalen Anteil. Das persönliche Erlebnis bestimmt die
Liebesgesinnung. Gerade dieses persönliche Element in der Lie-
besgesinnung wird uns zum Gradmesser für den möglichen Erleb-
nisge'halt. Nicht immer mögen im einzelnen Fall persönliche Er-
lebnisse zugrunde liegen, aber mittelbar fließt Persönlich-Indivi-
duelles in die Liebesgestaltung ein. Mitunter ist durch das Schema
typischer Motive und fester Termini hindurch der warme Hauch
menschlichen Lebens zu spüren. Im übrigen tut auch der konkrete
Einzelfall wenig zur Sache. Wichtig ist, den Liebestypus selbst
begrifflich zu fassen; denn Liebe ist ausschließlich das Thema
des Minnesangs und findet hier ihre ganz eigene Gestaltung. Diese
Aufgabe ist um so interessanter je mehr sie mit ungelösten und
unlösbaren Widersprüchen im Stoffe selbst zu ringen hat. Es ist
ja gewiß seltsam, fast wunderlich, daß eine Kunst, die ganz im
Umkreis gesellschaftlicher Oeffentlichkeit lebt und durchaus ge-
sellschaftlichen Zwecken dient, so ausschließlich dem Thema der
Liebe sich zuwandte, das doch im letzten Grunde Sache des persön-
lichen Empfindens, individuelle Angelegenheit ist. Aber eben
dieses Zusammentreffen einer allgemeinen Mode mit intim persön-
lichen Momenten, diese reizvolle Mischung von Indiskretion und
tiefstem, inneren Geheimnis geben der Minne einen so eigentüm-
lich einzigartigen Charakter. Der Minnesang wird dadurch zur
Liebesdichtung im besonderen Sinne, und es liegt eine ganz eigene
Aufgabe darin, diese besondere Ausprägung der Liebe, diesen in
seinen Ursprüngen und Voraussetzungen einmaligen Liebestypus
begrifflich zu fassen.
Der gestellten Aufgabe ist der Minnesang günstig und ungün-
stig zugleich; denn er ist eine Dichtung über die Liebe, keine Be-
kenntnisdichtung, die aus der Liebe selbst geflossen ist. Man kann
ihn also zitieren. Aber um so schwieriger ist die Aufgabe, wenn es
gilt, aus einer unklaren Mischung von Persönlichem und Allgemei-
nem, wie das im Minnesang der gewöhnliche Fall ist, den Liebes-
typus klar zu umreißen. Hier muß dann notwendig das Gefühl
entscheiden. Man darf sich nicht scheuen, durch die gesellschaft-
liche Staffage hindurch bis zum lebendigen Körper vorzudringen.
Man muß die Gesellschaftsmaske abnehmen, um das menschliche
Antlitz sichtbar zu machen.
Hier wenden wir nun der allgemeinen Liebesdarstellung unsere
Aufmerksamkeit zu. Dabei wird vor allem darzulegen sein, daß der
Minnesang wesentlich als eine allgemeine Kulturerscheinung auf-

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