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Heinrich Kiey

sames, etwas Gräflich-Bezauberndes: ich ge-
wahrte, daf zu jedem Ton sich ein neuer Ton
gesellte, ein immer durchdringenderer, der das
Blut in den Adern erkältete und die Haare zu
Berge stehen lief; ich lauschte: und da war es
bald das Schluchzen eines leidenden Kindes,
bald das wilde Weinen des Jünglings, das
Wimmern bald der Mutter, die ihr Kind ver-
loren, das röchelnde Stöhnen bald des Greises,
und all diese Stimmen der mannigfaltigsten
menschlichen Pein erschienen mir geordnet
wie eine imendliche Tonleiter, die sich vom
ersten Schrei des Neugebornen bis zum letzten
Gedanken des sterbenden Byron hinzieht: jeder
Ton einem überreizten Nerv entrissen, jede
Melodie ein fieberhafter Krampf.

Und wie eine finstere ^Volke hing dieses
furchtbare Orchester über den Tanzenden —
und aus dieser V^olke brachen hei jedem Takt
des Orchesters: die laute Stimme des Unmutes,
das zerrissene Stammeln dessen,den der Schmerz
besiegt hat, das dumpfe Wort der Verzweif-
lung ebenso wie die äuferste Qual des Bräuti-
gams, den man von seiner Braut getrennt hat,
die Reue nach dem Verrat und das Gebrüll
des empörten, des siegreichen Pöbels, es war
der Spott des Unglaubens darin und das frucht-

lose Schluchzen des Genius, die rätselhafte
Trauer des Heuchlers genau so wie das Leiden
dessen, den sein Jahrhundert verkennt, das Ge-
heul eines, der das Edelste seiner Seele in den
Schmutz getreten hat, und die kränkliche Stimme
des Menschen, dessen Leben zu lang währte,
die Lust der Rache und das Flackern der Wut,
der Rausch des Zerstörens und die Sehnsucht
des Begehrens, Zähneknirschen und Krachen
von Knochen, und Weinen und Seufzen und
Gelächter . . . und all dies verschmolz in den
ungestümen Harmonien, und wie kündete es
laut den Fluch wider die Natur, den Aufruhr
gegen die Vorsehung; und bei jedem Takt des
Orchesters wurden schauderhaft sichtbar bald
das blau angelaufene Gesicht des von der Fol-
ter Zerstörten, die lachenden Augen bald des
Wahnsinnigen, die schlotternden Kniee des
Selbstmörders und die verstummten Lippen
des von seelischer Qual heimlich Gemordeten;
und es tropften aus der finsteren Wolke blutige
Tränen auf das Parkett, — und es glitten dar-
über die Atlasschuhe der schönen Frauen .. .
und wie zuvor wirbelte alles vorüber, sprang
und raste im kalten Taumel der Wollust.

Bis tief in den Morgen hinein setzte der
Ball sich fort, und noch lange konnten die

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