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VIERTER TEIL: DIE MALER
Anden; es wird abet in den Revalet Urkunden erst um 1387-1603 zum erstenmal erwähnt, scheint
also nicht vor dem Ende des 16. Jahrhunderts nach Reval gekommen zu sein. - 3. Gerade um
diese Zeit, und zwar im Jahre 1388, restaurierte der Maler Sylvester van Swolle das Lübecker
Exemplar durch Unterfüttern, Bekleiden, Ausflicken und Aufhellen (wie sich die Urkunden leider
nicht allzu deutlich ausdrücken); wahrscheinlich seit damals, sicher aber unmittelbar vor der Her-
stellung der Kopie von 1701 fehlte an diesem Exemplar, wie aus einer Beschreibung des Jakobus
von Melle hervorzugehen scheint (270), eben jene erste Hälfte des Zyklus, die in Reval wieder-
kehrt, nämlich das Stück mit den Figuren von Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König, Bischof,
Herzog, Abt, Ritter, Karthäuser und Bürgermeister samt den elf mit ihnen gepaarten Todes-
gestalten (die sechs letzten Paare fehlen heute auch in Reval, waren dort aber vorhanden und sind
erst allmählich zugrunde gegangen - laut Zeugnis des Gotthard v. Hansen vom Jahre 1873);
wahrscheinlich wurde diese erste Hälfte des Zyklus, die an den West- und Nordseiten der Lübecker
Kapelle angebracht und deshalb der Witterung besonders ausgesetzt war, 1388 von Sylvester van
Swolle wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes restauriert, dann aber doch entfernt und von
den Vorstehern der Revaler Nikolaikirche als ein hochberühmtes Werk erbeten (271) und nach
Reval abgegeben.
Heises Gründe haben eine verführerische Überzeugungskraft. Gegen sie spricht eigentlich nur ein
einziger Gegengrund, den Heise selbst hervorgehoben hat: die Tatsache, daß Anton Wortmann,
als er 1701 in Lübeck die jetzt dort befindliche Kopie des vollständigen Totentanzzyklus herstellte,
auch jene erste Hälfte des Zyklus mitkopierte, die sich damals anscheinend nicht mehr in Lübeck,
sondern bereits seit über hundert Jahren in Reval befand. Der Kopist muß damals - so hat Heise
diesen Einwand widerlegt und so darf und kann dieser Einwand wirklich überzeugend widerlegt
werden - entweder in Lübeck noch eine Werkzeichnung aus der Zeit des Sylvester van Swolle
vorgefunden haben (dafür spricht auch die Tatsache, daß v. Melle an anderer Stelle noch die
Verse zu den beiden wohl damals schon in Reval beßndlichen Figuren des Karthäusers und
Bürgermeisters nachtragen konnte), oder er muß sich eine Nachzeichnung aus Reval beschatt
haben.
Heises Ergebnis darf also wohl wirklich Glauben beanspruchen: der Revaler Zyklus ist ein (frei-
lich ganz übermalter) Überrest des im übrigen verlorenen Lübecker Originalzyklus.
Durch eine Vergleichung des Revaler Originals mit dem ihm entsprechenden Teil der Lübecker
Kopie hat Heise auch aufzeigen können, was der Kopist Anton Wortmann im Jahre 1701 von der
spätgotischen Originalkomposition nicht übernommen und durch eigene Erfindungen im Sinne
seiner Zeit, d. h. der Barockzeit, neu gestaltet hat. Die Veränderungen sind folgende: 1. An Stelle
des ersten Revaler Figurenpaares, das nach dem Brauch anderer mittelalterlicher Totentanzzyklen
einen Prediget auf der Kanzel und davor einen sitzenden Tod mit Dudelsack zeigt, erscheint in
Lübeck nur eine einzige Figur, und zwar ein tanzender, flötespielender Tod mit einem barocken
27°) Einige der fehlenden Sprüche hat v. Melle freilich an anderer Stelle doch noch nachgetragen.Vgl. Heise,
a. a. O. 193.
27p Daß damals Beziehungen dieser Art zwischen Reval und Lübeck bestanden, bezeugt folgende Revaler
Urkunde, auf die mich Herr Peets in Reval freundlicherweise aufmerksam machte: „Anno 1603 Adj. 21. Oct.
hat mein in Godt ruhender lieber Vadter, der Kirchen St. Nicolai Vohrsteher Herr Jobst Dunte, die alte . . .
taffell des Jüngsten Gerichts abnehmen lassen und solche nach Lübeck umb daselbst zu reparieren mit
Schiffern Marx Rademachern auszgesant. Diese taffell ist in die 13 Jhare bey einem Mahler zu Lübeck
Schwein genandt ./. gestanden, endlich A° 1616 im Septemb: alhier gefertigt wird ankommen, daselbst
ich sie dem Herren Vohrsteher Thomas Luhren überreichet u. sie übers Beinhaus hangen lassen" (Denckel-
buch der St. Nicolai Kirche S. 32 b).
VIERTER TEIL: DIE MALER
Anden; es wird abet in den Revalet Urkunden erst um 1387-1603 zum erstenmal erwähnt, scheint
also nicht vor dem Ende des 16. Jahrhunderts nach Reval gekommen zu sein. - 3. Gerade um
diese Zeit, und zwar im Jahre 1388, restaurierte der Maler Sylvester van Swolle das Lübecker
Exemplar durch Unterfüttern, Bekleiden, Ausflicken und Aufhellen (wie sich die Urkunden leider
nicht allzu deutlich ausdrücken); wahrscheinlich seit damals, sicher aber unmittelbar vor der Her-
stellung der Kopie von 1701 fehlte an diesem Exemplar, wie aus einer Beschreibung des Jakobus
von Melle hervorzugehen scheint (270), eben jene erste Hälfte des Zyklus, die in Reval wieder-
kehrt, nämlich das Stück mit den Figuren von Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König, Bischof,
Herzog, Abt, Ritter, Karthäuser und Bürgermeister samt den elf mit ihnen gepaarten Todes-
gestalten (die sechs letzten Paare fehlen heute auch in Reval, waren dort aber vorhanden und sind
erst allmählich zugrunde gegangen - laut Zeugnis des Gotthard v. Hansen vom Jahre 1873);
wahrscheinlich wurde diese erste Hälfte des Zyklus, die an den West- und Nordseiten der Lübecker
Kapelle angebracht und deshalb der Witterung besonders ausgesetzt war, 1388 von Sylvester van
Swolle wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes restauriert, dann aber doch entfernt und von
den Vorstehern der Revaler Nikolaikirche als ein hochberühmtes Werk erbeten (271) und nach
Reval abgegeben.
Heises Gründe haben eine verführerische Überzeugungskraft. Gegen sie spricht eigentlich nur ein
einziger Gegengrund, den Heise selbst hervorgehoben hat: die Tatsache, daß Anton Wortmann,
als er 1701 in Lübeck die jetzt dort befindliche Kopie des vollständigen Totentanzzyklus herstellte,
auch jene erste Hälfte des Zyklus mitkopierte, die sich damals anscheinend nicht mehr in Lübeck,
sondern bereits seit über hundert Jahren in Reval befand. Der Kopist muß damals - so hat Heise
diesen Einwand widerlegt und so darf und kann dieser Einwand wirklich überzeugend widerlegt
werden - entweder in Lübeck noch eine Werkzeichnung aus der Zeit des Sylvester van Swolle
vorgefunden haben (dafür spricht auch die Tatsache, daß v. Melle an anderer Stelle noch die
Verse zu den beiden wohl damals schon in Reval beßndlichen Figuren des Karthäusers und
Bürgermeisters nachtragen konnte), oder er muß sich eine Nachzeichnung aus Reval beschatt
haben.
Heises Ergebnis darf also wohl wirklich Glauben beanspruchen: der Revaler Zyklus ist ein (frei-
lich ganz übermalter) Überrest des im übrigen verlorenen Lübecker Originalzyklus.
Durch eine Vergleichung des Revaler Originals mit dem ihm entsprechenden Teil der Lübecker
Kopie hat Heise auch aufzeigen können, was der Kopist Anton Wortmann im Jahre 1701 von der
spätgotischen Originalkomposition nicht übernommen und durch eigene Erfindungen im Sinne
seiner Zeit, d. h. der Barockzeit, neu gestaltet hat. Die Veränderungen sind folgende: 1. An Stelle
des ersten Revaler Figurenpaares, das nach dem Brauch anderer mittelalterlicher Totentanzzyklen
einen Prediget auf der Kanzel und davor einen sitzenden Tod mit Dudelsack zeigt, erscheint in
Lübeck nur eine einzige Figur, und zwar ein tanzender, flötespielender Tod mit einem barocken
27°) Einige der fehlenden Sprüche hat v. Melle freilich an anderer Stelle doch noch nachgetragen.Vgl. Heise,
a. a. O. 193.
27p Daß damals Beziehungen dieser Art zwischen Reval und Lübeck bestanden, bezeugt folgende Revaler
Urkunde, auf die mich Herr Peets in Reval freundlicherweise aufmerksam machte: „Anno 1603 Adj. 21. Oct.
hat mein in Godt ruhender lieber Vadter, der Kirchen St. Nicolai Vohrsteher Herr Jobst Dunte, die alte . . .
taffell des Jüngsten Gerichts abnehmen lassen und solche nach Lübeck umb daselbst zu reparieren mit
Schiffern Marx Rademachern auszgesant. Diese taffell ist in die 13 Jhare bey einem Mahler zu Lübeck
Schwein genandt ./. gestanden, endlich A° 1616 im Septemb: alhier gefertigt wird ankommen, daselbst
ich sie dem Herren Vohrsteher Thomas Luhren überreichet u. sie übers Beinhaus hangen lassen" (Denckel-
buch der St. Nicolai Kirche S. 32 b).