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I. KAPITEL: DIE TOTENTANZZYKLEN IN LÜBECK UND REVAL

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Der Lübecker Totentanz ist - wie beteits gesagt - eine Kopie vom Jahte iyoi/02. Diese Kopie Abb. 4-9
wutde in die noch heute erhaltene Ofiginahahmung von 1463 eingefugt, zwischen das Gestühl
und eine obere, 1 $ 88 um eine baldachinartige Hohlkehle bereicherte Rahmenleiste. Bei der An-
bringung der Kopie wurde das originale, damals anscheinend nur noch zum Teil vorhandene Lein-
wandgemälde von 1463 aus der Rahmung herausgeschnitten und ging verloren; nur ein Teil des
oberen Randes blieb beim Ausschneiden zurück und befindet sich noch heute unter der Kopie
(besonders an der Westwand der Kapelle).
Der Revaler Totentanz hat in viel höherem Grade als der Lübecker den Charakter eines spät-
gotischen Gemäldes (Abb. S. 17z). Seine Typen, Trachten und Farben erwecken zunächst wirklich Abb. 1-3
den Eindruck, als seien sie in der zweiten Hälfte des 1$. Jahrhunderts geschaffen. Dennoch kann
das Gemälde seine oberste Farbschicht erst im späten 16. Jahrhundert erhalten haben; dafür spricht
jedenfalls die Art der Pinselführung. Diese oberste Farbschicht überdeckt meines Erachtens die
Bildfläche vollständig; die kleinen Lücken, die Heise in ihr erkennen zu können glaubte (S. 190),
habe ich nicht festzustellen vermocht. Wohl aber dürfte sich unter der obersten Farbschicht noch
eine ältere aus spätgotischer Zeit befinden, und diese originale Schicht wird - das hat Heise richtig
erkannt - die Formen- und Farbengebung der Übermalung in einem ungewöhnlich hohen Maße
bestimmt haben. Volle Sicherheit darüber ließe sich freilich nur durch eine genaue technische
Untersuchung des Gemäldes in der Werkstatt eines erfahrenen Restaurators gewinnen. Zusam-
menfassend kann gesagt werden: der Revaler Totentanz ist höchstwahrscheinlich ein Original-
gemälde aus der zweiten Hälfte des 1$. Jahrhunderts; gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde er
übermalt, aber mit sorgfältiger Berücksichtigung der originalen Formen und Farben.
Der Revaler Totentanz galt bisher ganz allgemein als eine etwas jüngere Wiederholung des ver-
lorenen Lübecker Originals, da von seinen dreizehn Figuren nicht weniger als neun mit den ent-
sprechenden Figuren der Lübecker Kopie von 1701 übereinstimmen (Papst, Kaiser, Kaiserin und
Kardinal samt den vier zu ihnen gehörigen Totengestalten und einet fünften Totengestalt; vgl.
dazu Heise, S. 190 und Abb. S. 188/89). Außerdem galt es als sicher, daß die Revaler Wieder-
holung in etwas kleinerem Maßstab ausgeführt worden sei.
Beide Thesen hat Carl Georg Heise erschüttert. Zunächst wies er nach, daß es sich in Reval nicht
um eine maßstäbliche Verkleinerung des Lübecker Exemplars handelt, sondern um eine Darstel-
lung, die ursprünglich dieselbe Größe wie die Lübecker hatte und erst nachträglich gewaltsam
genug durch Abschneiden eines Streifens am oberen Rande (unter Beschädigung der Figuren!)
verkleinert worden ist. Außerdem schloß er weiter, das Revaler Exemplar sei ein Bruchstück des
verlorenen Lübecker Originals.
Dafür gab er folgende Begründung: 1. Nicht nur das Revaler Exemplar ist oben beschnitten, son-
dern bekanntlich ist auch das Lübecker Original bei seiner Entfernung oben beschnitten worden. -
2. Die Leinewand des vom Lübecker Original erhaltenen oberen Randstreifens hat denselben
Werkstoff und dieselbe Webart wie die Revaler Leinewand. - 3. Die Farbreste auf dem besagten
Lübecker Randstreifen haben nach Ausweis einer chemischen Untersuchung dieselbe Zusammen-
setzung wie die Farben des Revaler Exemplars. - 4. Das Revaler Exemplar wird erst zur Zeit des
Kirchenvorstehers Engell thor Borch (amtierend von 1387—1603) in Reval erwähnt, nicht früher,
obwohl die Rechnungs- und Denkbücher von St. Nikolai bereits seit 1463 vollständig erhalten
sind; wäre es als eine etwas jüngere Nachbildung des Lübecker Exemplars bald nach 1463 für
Reval geschaffen worden, so müßten sich die Belege dafür am Anfang dieser Rechnungsbücher
 
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