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I. KAPITEL: DIE TOTENTANZZYKLEN IN LÜBECK UND REVAL

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er nach landesüblichem Brauch auf Holz gemalt worden, so hätten bei seiner großen Länge viele
Bretter aneinandergefügt werden müssen und infolgedessen bei späterem Arbeiten der Bretter
Fugen entstehen können. Wäre er unmittelbar auf den Kalkbewurf der Wand gemalt worden, so
hätte das rauhe Lübecker Klima die Malerei bald zerstören können, zumal der weitaus größte Teil
des Zyklus an den besonders gefährdeten West- und Nordwänden der Kapelle angebracht werden
mußte. Diesen Gefahren für sein Werk, die die ganz ungewöhnliche Aufgabe mit sich brachte, hat
der Maler wohl durch die ganz ungewöhnliche Verwendung eines Leinewandgrundes geglaubt
Vorbeugen zu können - leider irrtümlicherweise, das beweist die oben erzählte Leidensgeschichte
des Zyklus. Eine Neigung zum Ausprobieren neuer technischer Verfahren, wie sie hier festgestellt
werden konnte, bekundete aber unter den damaligen lübeckischen Meistern in allererster Linie
Bernt Notke; hat er doch bekanntlich gegen allen Brauch an der Stockholmer St. Jürgen-Gruppe
Elchgeweihe verwendet und an der Messinggrabplatte des Hermen Hutterock buntfarbige Schmelz-
einlagen.
4. Für Notkes Urheberschaft spricht am Totentanz auch der düstere Gesamtklang der Farben.
Er ähnelt am Revaler Original (nicht an Wortmanns Lübecker Kopie!) trotz aller Übermalungen
noch ganz entschieden der dunklen Farbstimmung der besten Gemälde des Aarhuser Altars und
des Lübecker Dreifaltigkeitsaltares (Heise). Die kraftvolle Tiefe der Farben aber unterscheidet,
wie Heise mit vollem Recht hervorgehoben hat, die erwähnten eigenhändig ausgeführten Ge-
mälde Notkes aufs deutlichste von den hellfarbigen Gemälden aller anderen zeitgenössischen
Lübecker Werkstätten (Rode!) und selbst der meisten Notke-Gehilfen (Aarhuser Predella; Revaler
Elisabeth-Legende!). Daß die Dunkelheit der notkeschen Farben nicht etwa nur durch nachträglich
hinzugekommene Schmutz- oder Firnisschichten vorgetäuscht wird (wie man vielleicht argwöhnen
könnte), sondern von Anfang an vorhanden war, bezeugen die Altäre in Aarhus und Reval ganz
eindeutig; an ihnen finden sich nämlich trotz gleichmäßiger Verschmutzung und Firnissung dunkle
und helle Gemälde nebeneinander.
$. Für Notkes Urheberschaft spricht schließlich noch - und am allereindringlichsten! - die Grund-
stimmung des Totentanzes: die ergreifende Vergegenwärtigung der Allgewalt des Todes. Kein
anderer Lübecker Meister der Spätgotik hat das Motiv des Todes geßissentlich aufgesucht. Notke
aber hat es in seiner langen Laufbahn immer wieder aufgegriffen: in den auferstehenden Gerippen
am Lübecker Triumphkteuz von 1479, in den Totenköpfen und Leichenresten der Stockholmer
St. Jürgen-Gruppe von 1489 und in den Toten der Hutterock-Grabplatte von 1309. Und er hat es
dabei stets vermocht, jene unheimlich spukhafte Stimmung zu treffen, die für die Phantasie des
Volkes mit dem Tode untrennbar verbunden ist. Diese dämonische Stimmung beseelt alle seine
Todesdarstellungen, aufs verschiedenartigste abgewandelt, aber immer gleich packend; das ge-
spenstische Auffahren der in Ratternde Laken gehüllten Auferstehenden am Lübecker Triumph-
kreuz ist von ihr ebenso bestimmt wie die maskenhafte, im Augenblick der höchsten Todesnot Abb. 27
auf ewig erstarrte Grimasse des kleinen Stockholmer Totenkopfes und die geheimnisvolle Todes- Abb. 83,83
ruhe des großen Stockholmer Totenkopfes oder wie das rätselhaft zwischen Todesstarre und heim- Abb. 84
licher Lebenskraft schwebende Wesen der von zuckendem Gefältel umgeisterten Gestalten der
Hutterock-Platte. Von dieser so ganz und gar notkeschen Stimmung sind nun, wie Heise er- Abb. 121
kannte, auch die Gestalten des Totentanzes beseelt. Insbesondere gleichen sie meiner Meinung
nach den ältesten, ihnen auch chronologisch am nächsten stehenden Schöpfungen der beschriebe-
nen Reihe, den Auferstehenden am Triumphkreuz des Lübecker Domes (1479). Im Totentanz ist
dieses notkesche Todesmotiv, das in den anderen Werken nur eine begleitende Rolle spielt, zum
Leitmotiv eines hochmonumentalen Zyklus gemacht. Fast fünfundzwanzigmal wiederholt sich in
 
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